«Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet»

Auschwitzgedenkstunde in der Kölner Antoniterkirche

Auschwitzgedenkstunde in der Kölner Antoniterkirche. Der Chor des Hansa-Gymnasiums begleitete die Gedenkstunde.
Der Chor des Hansa-Gymnasiums begleitete die Gedenkstunde.
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Im Jahr 1996 - 51 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee und 32 Jahre nach dem Beginn des Auschwitzprozesses in Frankfurt - proklamiert Bundespräsident Herzog den 27. Januar als Auschwitzgedenktag. Im Jahr zuvor, am 50. Jahrestag der Befreiung, hatte es zahlreiche Manifestationen zu diesem Anlass gegeben, es war «zahlreich der Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns und Völkermordes erinnert und der Millionen Menschen, die durch das nationalsozialistische Regime entrechtet, verfolgt, gequält oder ermordet wurden, gedacht worden»

In Köln trägt diesen Gedenktag ein weit gespanntes Bündnis. Seitdem drängen sich die Menschen jährlich zur Gedenkstunde in der Kölner Antoniterkirche. Schauspielerinnen und Schauspieler tragen Texte über das Schicksal unterschiedlicher Kölner Opfergruppen vor. Einmal richtet sich der Blick auf die Künstler in der Nazizeit, ein anderes Mal auf die Kölner Schulen. 2017 geht es um Flucht und Asyl. 2018 wird an die wechselhafte Erinnerungskultur selbst erinnert. 2019 gibt es eine Analyse der Rüstungsproduktion. Wer profitierte vom Krieg? 2020 geht es um das Wirken und das Schicksal von Kölner Frauen - um die Opfer, aber auch um Täterinnen. 2022 untersucht die Veranstaltung die Kölner Gesundheitspolitik während der NS-Diktatur und klärt 2023 über die Gleichschaltung der Medien in Köln auf.

Sogenannte Asoziale
Auch in diesem Jahr, am 27. Januar 2024, ist die Antoniterkirche bis auf den letzten Platz besetzt. Pfarrer Bonhoeffer begrüßt, Oberbürgermeisterin Henriette Reker hält eine kurze Ansprache. Erörtert wird das Schicksal der Menschen, Tausende Kölnerinnen und Kölner darunter, die als sogenannte Asoziale und Berufsverbrecher gegolten haben. Erst im Jahr 2020 hat sie der Bundestag als NS-Opfer anerkannt. «Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.»

Infolge der Wirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre hat ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung keine Arbeit. Auch in Köln ist die soziale Not groß. Leistungen, die wir heute Transferleistungen nennen würden, werden immer restriktiver vergeben. Viele verlieren ihre Lebensgrundlage und rutschen ins soziale Abseits.
Kleinere Eigentumsdelikte und Gelegenheitsprostitution nehmen zu. Die Wohnungslosigkeit steigt. In der Kölner Presse des Jahres 1932 gelten die in der Stadt auftretenden Bettler und «Landstreicher» als «schlimme Plage», als nicht hinnehmbare «Belästigung der Bevölkerung».
An diese Stimmung kann das NS-Regime 1933 nahtlos anknüpfen. Gleich in den ersten Monaten stellen die Erlasse des Innenministeriums zur «Bekämpfung des öffentlichen Bettelns» vom 22. Juni 1933 und 2. September 1933 unmissverständlich klar, dass der NS-Staat die «Zurschaustellung» sozialer Not systematisch verfolgen will.
Es folgt im November 1933 das «Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher». Das erlaubt jetzt, mehrfach auffällig gewordene Bettler, Landstreicher, «Arbeitsscheue», «Unterhaltssäumige», Trinker, Prostituierte oder psychisch Kranke für unbeschränkte Zeit in Arbeitshäuser, Heil- Pflege- und Trinkerheilanstalten einzuweisen.
Zwischen November 1933 und Dezember 1936 registriert die Arbeitsanstalt Brauweiler 1.065 gerichtlich verfügte Einweisungen. Die Zahl der «Korrigenden», - Menschen, die nach kurzen Haftstrafen nicht freigelassen werden, sondern im Arbeitshaus «sozialisiert» werden sollen -, nimmt sprunghaft zu. Auch die Frauenabteilung erhält verstärkten «Zulauf».

Völkischer Beobachter, 20. Juli 1936: «Der Nationalsozialismus will die öffentlichen Fürsorgemittel für die Erhaltung der wertvollen Volksgenossen eingesetzt wissen, und im übrigen die Fürsorge auf das Allernötigste beschränken. Grundsätzlich ist zu prüfen, welchen Wert der einzelne Hilfsbedürftige (körperlich, geistig, charakterlich, beruflich) für die Volksgemeinschaft hat.
Wer sich auf die Fürsorgeeinrichtungen verlässt, in den Tag hinein lebt, ohne Vorsorge für die Zukunft, wer sich in der gegenwärtigen Zeit nicht schämt, sich wiederholt angebotener Arbeit durch Faulheit zu entledigen, um dann lieber tatenlos vom Krankengeld zu leben, verdient nicht nur wiederholte Arbeitsanstaltseinlieferung … sondern müsste einer strengeren Korrektionsanstalt zugeführt werden.
»

Die hier geforderte Verschärfung erfolgt mit dem «Grunderlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ vom 14. Dezember 1937. Er schafft die formalen Voraussetzungen, dass die Kripo jetzt sogenannte Asoziale» oder «Gemeinschaftsfremde» ohne gerichtliches Verfahren direkt in die Konzentrationslager einweisen kann.

Am 1. Juni 1938 ergeht ein Befehl des Reichskriminalpolizeiamtes, wonach zwischen dem 13. und 18. Juni jede Kriminalpolizeileitstelle mindestens 200 «arbeitsscheue» und offensichtlich arbeitsfähige Männer in Vorbeugungshaft zu nehmen und umgehend in staatliche Konzentrationslager zu deportieren habe - «unter schärfster Anwendung des Erlasses vom 14.12.1937». So kommen allein aus Köln Hunderte von sogenannten Gemeinschaftsfremden in den Konzentrationslagern um.

Altstadtsanierung
Im Jahr 1931 schreibt Irmgard Keun in Gilgi:
«Es macht Spaß, in der Kölner Altstadt herumzustrolchen. Winklige Gäßchen und holpriges Pflaster – heiße Maronen, zehn Stück für’n Groschen! Man füllt sich Manteltaschen damit und wärmt sich die Fingerspitzen dran. –… Krumm gezogene, altersschwache Häuser, Miniaturgeschäfte, Ladenscheiben nicht größer als ein Kopfkissen. Dahinter zusammengepferchte alte Kleider und Anzüge, Uhren, die ein heiliges Gelübde abgelegt haben, nicht zu gehen, Gitarren, Kindertrompeten … Himioben steht als Name über einer Tür.»
Der Grundriss des Martinsviertels und speziell des Fischmarkts sind teils römischen, teils mittelalterlichen Ursprungs. Ein Geflecht aus engen, lichtarmen Gässchen, 90% der Fläche sind überbaut, Innenhöfe oder Gärten gibt es nicht. In den windschiefen Häusern existieren nur selten abgetrennte Einzelwohnungen, meist sind es nur Zimmer, die immerfort neu vermietet werden. Eine einzige Toilette pro Haus ist nicht ungewöhnlich. Baurechtliche Vorgaben existieren nicht. Eine Statistik des Kölner Wohnungswesens von 1910 hält 2 Quadratmeter Wohnfläche je Bewohnerin oder Bewohner für ausreichend. Der Mangel an guter Luft, Heizungen und Hygiene löste im 19. und frühen 20. Jahrhundert wiederholt Seuchenwellen aus: Typhus, Pocken, Cholera, Spanische Grippe.
Vermutlich lebten im Martinsviertel in der Weimarer Zeit etwa 2.500 Menschen. Das Adressbuch von 1929 vermeldet rund um den Fischmarkt Tagelöhner, Packer, Altwarenhändler, Frauen ohne Gewerbe, davon mögen nicht wenige Prostituierte gewesen sein, Menschen ohne Ausbildung, selten mal kleine Handwerker und Ladenbesitzer. In der etwas besser situierten Gürzenichstraße sind einige Hausbesitzer Juden, das Adressbuch nennt die Namen Hirsch, Schwarz, Rosenthal, Bier, Mosse, Michel, Katz und Rosenthal.
Ab 1927 lässt Oberbürgermeister Konrad Adenauer den Denkmalpfleger Hans Vogts die baulichen Zustände im so genannten Rheinviertel untersuchen. Ziel ist es, die hygienischen Verhältnisse zu verbessern und mehr Licht in die Straßen zu bringen. Eine damit einhergehende Aufwertung der pittoresken Rheinfront für den Tourismus wäre willkommen. Die Umsetzung dieser Baumaßnahmen fällt der Weltwirtschaftskrise zum Opfer.
Bereits wenige Tage nach der Machtübernahme 1933 kündigten die Nazis eine grundlegende Umgestaltung der Kölner Innenstadt an. Auf der Grundlage der alten Pläne Adenauers soll Vogts Sanierung des Martinsviertels als künstlerischer Leiter in die Hand nehmen.
«Die Ursache der Krankheit des Viertels lag ... nicht bei den Häusern, sondern bei den Menschen, die sich darin eingenistet hatten», sagt er. Er steuert eine «soziale Umschichtung» an, das Stadtviertel soll «rassenrein» und Arme vertrieben werden. Das bedeutet Zwangsräumungen. Die dafür erforderlichen rechtlichen und administrativen Mittel stellt die Stadtverwaltung unter Leitung des neu eingesetzten Baudezernenten Dr. Robert Brandes, der schon vor 1933 NSDAP-Mitglied war, mit konsequenter Brutalität bereit.
Sanierungswillige Eigentümer, neue Bewohner, Atelierbetreiber und Gastronomen kommen in den Genuss regionaler Investitionen, die ihnen eine Wertsteigerung ihres Standorts garantieren. Regine Schlungbaum-Stehr merkt dazu an: «Die in den 30er Jahren durchgeführte soziale Umstrukturierung lässt sich anhand der veränderten Eigentumsverhältnisse verdeutlichen: bei mehr als zwei Drittel der Objekte ging der Sanierung eine Besitzerwechsel voraus, der nicht immer wirtschaftlich motiviert war, sondern auch aus rasseideologischen Gründen erfolgte.»
Durch die Sanierung des Martinsviertels entstehen neue wilde Siedlungen. Das gibt es schon lange, denn wegen der grassierenden Wohnungsnot zogen die Menschen in Laubenkolonien und Baracken auf städtischem Grund, sogar in ausrangierte Zugabteile. Der Westdeutsche Beobachter, die Zeitung der NSDAP, zählt am Weihnachtstag 1934 1.100 menschenunwürdige Wohnungen in Köln. «Weg mit den Wohnbaracken», titelt die Zeitung. 1935 und 1937 siedelt die Polizei sie um, zum Beispiel auf den Schwarz-Weiß-Platz in Bickendorf, kaserniert sie dort, wo sonst Sintezze und Romni in Lager gezwungen werden. Für andere bieten neue Siedlungen, meist sehr einfache Wohnungen, am Stadtrand Ersatz für den weggenommenen Wohnraum, zum Beispiel in Müngersdorf, Merkenich oder beiderseits der Vogelsanger Straße.

Hertha Kraus
1923 holt Oberbürgermeisters Konrad Adenauer eine junge Frau nach Köln. Hertha Kraus leitet künftig das Kölner Wohlfahrtsamt. Zehn Jahre lang gestaltet sie bald in beeindruckender Weise das gesamte Sozialwesens in Köln. 1924 tritt sie in die SPD ein. Sie schließt Freundschaft mit Wilhelm Sollmann und Marie Juchacz, der Gründerin der AWO. Hertha Kraus verfolgt die Prinzipien der Vorbeugung und der nachhaltigen Abhilfe. Sie lässt die leerstehenden Kasernengebäude in Riehl zu einer beispielhaften «Altenstadt» umbauen. Die stabilen Häuser bieten preiswerten und sozial betreuten Wohnraum für mittellose alte Menschen.
Sie baut eine großzügige Arbeitsfürsorge auf und lässt Werkstätten aller Art einrichten. Dadurch möchte sie den Selbstbehauptungswillen des und der Einzelnen stärken. Sie kümmert sich um Arbeitsplätze speziell für arbeitslose und alleinstehende Frauen, die «durch irgendeinen Zufall aus dem Erwerbsleben herausgeschleudert wurden und kaum wieder Fuß fassen können, Ledige, Witwen, verlassene Ehefrauen, Frauen von Strafgefangenen».
Außerdem unterstützt sie ein Quäker-Hilfswerk speziell für arbeitslose Mädchen.
Aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 wird Hertha Kraus als politisch unzuverlässige Sozialdemokratin jüdischer Herkunft sofort aus dem Dienst entlassen. Sie kann in die USA emigrieren.
Ab Juli 1942 beginnt die «Evakuierung» der Riehler Heimstätten, mehrere hundert alte Menschen werden in psychiatrische Anstalten nach Düren und Zülpich gebracht. Spätestens ab Sommer 1943 wurden die Patientinnen und Patienten wie in anderen Heil- und Pflegeanstalten getötet oder ihr Tod durch Vernachlässigung und katastrophale Rahmenbedingungen billigend in Kauf genommen. Bis Oktober 1943 sind 3.000 ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner der Riehler Heimstätten in zum Teil weit entfernte Gebiete «evakuiert».

Der Chor des Hansa-Gymnasiums begleitete die Gedenkstunde. Irene Franken hat auch dieses Jahr illustrierende Bilder herausgesucht und auf eine Leinwand projiziert. Klaus Jünschke sprach im Namen des Aktionsbündnisses gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung zur gegenwärtigen Situation der Obdachlosen.
Die Veranstaltung wurde mit einem Mahngang zur Salzgasse in der Altstadt beendet.

Klaus Stein, Köln 7. Februar 2024


Auschwitzgedenkstunde in der Kölner Antoniterkirche


 

Auschwitzgedenkstunde in der Kölner Antoniterkirche am 27.01.2024. (weitere Fotos)