Keupstraße: Fehler beim Vertuschen
Fehler, Pannen und Defizite der Sicherheitsbehörden – beim Vertuschen
Die Keupstraße in Köln-Mülheim gibt sich so türkisch wie jede beliebige Straße in einer türkischen Stadt. Läden, Restaurants, ein Friseur.
Eine Überwachungskamera zeichnet am 9. Juni 2004 Bilder auf. Gegen 14.30 Uhr schiebt ein etwa 25 bis 30 Jahre alter Mann mit Baseballkappe zwei Mountainbikes durch die Schanzenstraße, die auf die Keupstraße stößt. Kurz darauf kommt er ohne Räder zurück. Um 15.10 Uhr taucht er wieder auf – gefolgt von einem weiteren gleichaltrigen Mann, der ein Damenfahrrad schiebt. Auf dem Gepäckträger ist ein Hartschalenkoffer befestigt. Abgestellt wird das Damenrad vor einem Friseursalon in der Keupstraße.
Um 15.56 Uhr explodiert hier die Bombe, eine Gasflasche mit 5,5 Kilo Schwarzpulver und 800 zehn Zentimeter langen Nägeln. 22 Menschen werden verletzt, vier davon schwer.
Etwa zwei Stunden später berichtet dpa. Schon der zweite Satz behauptet: Es gebe »derzeit keine Anzeichen für einen terroristischen Hintergrund«. Aber noch um 17.09 Uhr hatte das Landeskriminalamt an das Düsseldorfer Innenministerium gemeldet: Der Anschlag sei als »terroristische Gewaltkriminalität« einzustufen. Um 17.25 Uhr erreicht das Lagezentrum NRW-Innenminister Fritz Behrens. Nur 11 Minuten später, um 17.36 Uhr, weist das Innenministerium das Landeskriminalamt an, aus dem Schriftverkehr den Begriff »terroristischer Anschlag« zu streichen. (WDR 25.11.12).
Am Folgetag verkündet der damalige Bundesinnenminister Otto Schily: »Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu.« (WDR 29.11.12)
Solche Sätze haben die Qualität von Anweisungen.
Die Bewohner der Keupstraße machen die Polizei mehrfach darauf aufmerksam, dass der Anschlag möglicherweise in einem Zusammenhang zu den Serienmorden an türkischen Geschäftsleuten in Deutschland stehe oder die Täter ein fremdenfeindliches Motiv gehabt haben könnten.
Vier Tage nach der Explosion der Nagelbombe bekommt Arif Sagdic Besuch von der Kriminalpolizei. »Das war doch klar, das war ein Terror-Anschlag von Neonazis, habe ich gesagt«, so Sagdic. »Die Polizisten haben mir geantwortet: Schweig darüber, kein Wort zu niemandem. Die haben mir richtig Angst gemacht. Ich habe dann auch niemals wieder mit jemanden über Neo-Nazis und einen Terroranschlag geredet.« (WDR 25.11.12)
Das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt lässt türkische und kurdische Anwohner der Keupstraße systematisch ausforschen. Das LKA setzt »auf Bitten der Kölner Polizei« zwischen Juni 2005 und Februar 2007 zwei verdeckte Ermittler und fünf Vertrauenspersonen ein und lässt über eine Scheinfirma Räume in der Keupstraße anmieten, um ein Vertrauensverhältnis zu den Anwohnern aufzubauen. (Kölnische Rundschau 23.11.12)
Die Polizei hört in der Keupstraße Telefone ab, sucht unter den Opfern Verdächtige.
Ohne Ergebnis selbstverständlich.
Am 25. November 2012 berichtet WESTPOL (WDR-Fernsehen) über vertrauliche Protokolle aus dem Lagezentrum des Innenministeriums vom Tag des Anschlags. Jetzt erst hält der WDR für erstaunlich, dass bereits anderthalb Stunden nach der Explosion ein terroristischer Anschlag ausgeschlossen worden ist. Wenige Wochen nach dem Anschlag gab es Hinweise auf einen ausländerfeindlichen Hintergrund. Auch sie fallen erst jetzt auf. Profiler des Landeskriminalamtes hatten analysiert, dass die Täter wahrscheinlich Deutsche sind, »mit einer Abneigung gegen Ausländer«.
Der Verfassungsschutz übermittelte vier Wochen nach der Tat den Sicherheitsbehörden in NRW ein Papier, in dem von der rechtsextremistischen Motivation der Attentäter die Rede ist. Der Geheimdienst erkennt Parallelen zu einer Londoner Serie von rassistischen und schwulenfeindlichen Nagelbombenanschlägen aus dem Jahre 1999. Ein Faschist hatte drei Menschen getötet und mehr als 140 verletzt. Das Papier bleibt geheim.
»Der Sprengstoffanschlag in der Keupstraße war das Delikt in der Verbrechensserie der NSU, wo es die meisten Chancen gegeben hätte, das Trio zu ermitteln und dann vielleicht auch ausfindig zu machen, weil es eben das Dossier gab«, berichtet Clemens Binninger (CDU), Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses, im WDR. »Es gab ein Video der Täter und es gab eine Sprengstoffdatei beim Bundeskriminalamt, die abgefragt wurde von den Ermittlern, aber eben nur hinsichtlich der Zusammensetzung des Sprengstoffes und der Sprengvorrichtung. Hätte man dort die Begriffe eingegeben in dieser Datei: männlich, rechtsradikal, Koffer – alles Merkmale, die in Köln ja offensichtlich vorlagen – wäre als Treffer herausgekommen: Mundlos und Böhnhardt«.
Erst am Donnerstag, den 25. April 2013, kann der NSU-Untersuchungsausschuss einen der beiden Polizisten befragen, die sich in unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Nähe des Anschlags in der Keupstraße aufgehalten hatten. »Hundeführer«, unterwegs als »motorisierte Funkstreife«, waren es nach Auskunft des NRW-Innenministeriums am 8. März 2013. Es sind ein Kommissar und ein Hauptkommissar. In Zivil. Offenkundig keine Beamten, die Streifendienst machen. Sie waren noch vor den Einsatzkräften am Tatort. Videoaufzeichnungen belegen, dass sich die beiden Polizisten zur gleichen Zeit in derselben Straße aufgehalten hatten wie die Täter. (WDR 8.4.13). Dennoch sind die Beamten erst im März 2013 vernommen worden. – Vernommen?
Noch im November bestritt Innenminister Ralf Jäger (SPD) unverdrossen eine politische Einflussnahme durch den damaligen Innenminister Fritz Behrens (SPD) im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum Nagelbombenanschlag in der Keupstraße. Davon könne »nicht ausgegangen werden«, sagt Jäger. Er räumt aber »Fehler, Pannen und Defizite der Sicherheitsbehörden« ein.
Na klar, beim Vertuschen.
Just zum Zeitpunkt des Anschlags in der Keupstraße am 9. Juni 2004 hatten sich die G8-Regierungschefs zu einem Weltwirtschaftsgipfel in Sea Island im US-Staat Georgia versammelt, darunter Gerhard Schröder, George W. Bush und Silvio Berlusconi. Routiniert wie immer logen sie und legten ihre Lügen in 21 Dokumenten dar. Darunter: Im Kreis der G8 herrsche große Übereinstimmung, dass die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus in all seinen Formen andauere und man weiterhin gemeinsam dagegen vorgehen müsse.
Klaus Stein
aus UZ vom 3. Mai 2013
unsere zeit – Zeitung der DKP
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