100 000 demonstrierten in Brüssel

Gegen das Europa der Sparpläne und der Prekarität

Demonstranten mit Transparenten und roten Fahnen.

Über 100 000 Gewerkschafter auf dem europäischen Aktionstag des EGB am 29. September 2010 in Brüssel

Schilderung eines deutschen Kommunisten

Brüssel scheint im verkehrstechnischen Ausnahmezustand. Wir gehen über ab­ge­sperrte Boulevards und Straßen­kreu­zun­gen. Die sind so groß wie Fuß­ball­fel­der, auf denen kein Auto mehr fährt, weil die Poli­zei sie für die De­mon­stran­ten frei hält. Die »Police« ist mit Motor­rädern und -rollern, Autos und zu Fuß präsent. Nur einen ein­zi­gen aber den­noch be­droh­lich wir­ken­den Was­ser­wer­fer sehe ich.

Nachdem wir die »Avenue de Stalin­grad« über­quert haben, er­rei­chen wir unse­ren An­lauf­punkt: Das Haus der »Parti du Travail de Belgique« (PTB), oder in nieder­län­di­scher Sprache: »Partij van de Arbeid van België« (PvdA). Vom Inne­ren be­merkt man unser Zö­gern beim Be­treten des Ge­bäudes. Da kommt schon ein Genos­se heraus und bit­tet uns hinein­zu­kom­men. Im Laden­lokal, arbeiter­ro­man­tisch dunkel und höl­zern, ist es sehr ge­müt­lich. Man fühlt sich in Emile Zolas be­rühm­ten Roman »Germinal« ver­setzt, wo nord­fran­zö­sische Mineurs in Spe­lun­ken den Streik be­spre­chen. Sehr freund­li­cher Emp­fang durch die Ka­me­raden mit Kaf­fee, aber das bekannt gute bel­gi­sche Bier an der Theke habe ich mir wegen des fol­gen­den Stoff­wech­sels ver­sagt. An die schon anwe­sen­den bel­gi­schen, fran­zö­si­schen und deut­schen Genos­sen ver­teile ich unsere kleinen roten Aufkleber.

Ein Kamerad (das fran­zösi­sche Syno­nym für Genos­se) hält eine fran­ko­phone An­spra­che an seine bel­gi­schen Mit­strei­ter, In­struk­tio­nen fol­gen. Der Deutsch spre­chen­de Bel­gier über­setzt uns, dass wir uns irgend­wann in den Zug ein­reihen werden, und dabei ist Zu­sam­men­halt ge­for­dert. Wei­ter­hin er­klärt er uns, dass, außer heute, sonst alle De­mon­stra­tio­nen hier am Haus vorbei führen. Und dann wird eine Tri­büne auf­gebaut von der sie ihre Agi­ta­tion be­trei­ben. Nun geht's los. Wir erhal­ten unsere Flug­blätter, starten in Beglei­tung des bel­gischen Genos­sen und ver­teilen im Gehen mit der Fahne in der Hand das drei­spra­chi­ge Papier. Alle Pas­san­ten nehmen mit einem freund­li­chen Lächeln. Egal ob Schwarze, Weiße, Alte, Jugend­liche oder Fahr­rad­fahrer. Sie ver­langen danach.

Unterwegs stoßen wir auf den ersten Info­stand unse­rer bel­gischen Freunde. Die Begrüßung ist so wie bei Brüdern, die sich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen haben. Weiter geht es zur Stelle an der Demo-Route, an der der Jugend­ver­band der Partei »COMAC« Stel­lung bezo­gen hat. Es ist eine ansehn­liche Bühne, von der der Vor­sit­zende und ein wei­te­rer Genos­se die vor­über­zie­hen­den De­mon­stran­ten an­spricht. Da­vor ein jun­ger Genos­se, der per Me­ga­phon mit­reiß­en­de Pa­ro­len an die Ka­mera­den rich­tet. Was der kann, kann ich auch, und bitte ihn um das Mikrofon. »Wiwa la Parti dü Traweijö de Belschik« rufe ich hinein, und zu meinem Erstau­nen schallt es aus hun­dert Kehlen zurück: »Vivaaat«. Das­selbe ver­suche ich mit der DKP, und es klappt eben­falls. Als DKP sind wir gut sicht­bar und wer­den von unse­ren bel­gi­schen Ka­me­ra­den be­achtet. Ein­ein­halb Stun­den las­sen wir die Demo an uns vorüberziehen.

Die Demo

Lautsprecherwagen mit Mem­bran­schwin­gungen, so laut, das man sich an denen die Haare föhnen kann. Zehn­tau­sende: Spanier, Fran­zosen, Ita­liener, Tschechen, Rumä­nische Poli­zisten in einer Kluft, die wie ihre Dienst­klei­dung aus­sieht: Alle euro­pä­ischen Ge­werk­schaf­ten sind da! Ein viel­fäl­tiges Bild, ein Fah­nen­meer in Rot, aber auch grün ver­klei­dete Teil­neh­mer, die IG BCE mit vor­ran­gig weißem Out­fit, afri­ka­nische Tromm­ler, da­zwi­schen immer wieder große Grup­pen der fran­zö­si­schen »cgt«, es knal­len Syl­ves­ter­kra­cher und es blö­ken Plas­tik­trom­peten. Der Lärm, phy­sisch unge­sund, ist je­doch in dieser emo­tio­nalen Situa­tion psy­chisch eine Wohl­tat. Es geht einem »das Herz auf«.

Stahlwerker in ihren silbernen Mänteln und Fackeln in der Hand ähn­lich eines ben­ga­li­schen Feuers. Sie erzeu­gen Rauch­schwa­den über die Demons­tranten, die an Ber­liner Häuser­kampf erin­nern. Aber anders als bei uns in der BRD inter­es­siert das die hiesige »Politie« nicht.

Stolz schreiten deutsche Bergleute in ihrer ehrwürdigen schwarzen Kluft vorbei, aber auf unsere Flugblätter verzichten sie mit einem freund­lichen Lächeln. Ebenso wie unsere Hütten­wer­ker in ihrem roh­weißen Dril­lich. Tradi­tio­nelle Arbei­ter­lie­der höre ich bis auf das »Avanti Popolo« der vor­über­zie­hen­den Ita­liener nicht, mehr aktu­elle Pop­musik, aber in dieser Atmo­sphäre wird die zur mitrei­ßenden Arbeiterkultur.

Unerwartet sehe ich eine Gruppe junger Menschen mit einer roten Fahne. Neben einem mir unbe­kannten Symbol stehen die Namen dreier kleiner Wallon­ischer Orte darauf. Einer davon ist der, in welchem das Eltern­haus meines Vaters war, und in dem ich in den sechziger Jahren so oft auf Visite war. Die spreche ich an, und obwohl wir uns verbal nicht ver­stehen kapieren sie mein Anliegen und foto­gra­fieren mich vor dieser Fahne. »Merci beaucoup«.

Irgendwann, vielleicht nach knappen zwei Stunden und fünf­zig­tau­send Arbeitern reihen wir uns in den Zug ein. Nun sind wir als Teil des Marsches fast am Ende des Zuges. Fast am Ende? Ich drehe mich nach hinten und sehe dieses nicht.

Text und Foto: Achim