NSU-Prozess, vier weitere Verhandlungstage

Die Keupstraße spricht. Endlich können sich die Opfer des Nagelbombenanschlags darüber äußern, was am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße passiert ist und was das mit ihnen gemacht hat. Aber der Richter Götzl gibt jedem Zeugen nur zwanzig Minuten Zeit, zu wenig, um das Ereignis und das Ausmaß der körperlichen und seelischen Folgen zu beschreiben

Kemal G. war kürzlich erst aus der Osttürkei geflohen, hatte sich Schutz in Deutschland erhofft. Nach Angstzuständen verlor er seine Arbeit. Einen Kiosk musste er aufgeben. Er hofft, bei einem neuen Job mit der Hilfe von Psychotherapie durchhalten zu können.
Im Laden von Ertan T. (52) wurden die Vitrinen verwüstet. Er berichtet, dass die Polizei dem Verdacht eines Machtkampfes zwischen Türsteher-Szene und Mafia nachging.


Sermine S. (39), hochschwanger, brachte drei Wochen später ihr Kind zur Welt. Atemnot und Panik-Attacken stellten sich erst später ein. Geschlossene Räume und Menschenansammlungen meidet sie zwanghaft. Die Möglichkeit, endlich vor Gericht aussagen zu können, verschafft ihr aber eine gewisse Genugtuung.
Juwelier Metin I. (58) von der Keupstraße 48 saß vor seinem Laden: „Wir haben uns alle drei auf den Boden geschmissen und wir wussten nicht, was los ist. Ich sagte, ich glaube, da ist eine Gasflasche explodiert. Leute liefen rum, und man sah Blut. Jede Menge Nägel. Dann wurden wir zum Krankenhaus gefahren und behandelt. Weil ich ja auch die drei Nägel im Körper hatte. In der Schulter und im rechten Bein.“ Er ist auf dem rechten Ohr schwerhörig. „Es war unser Glück, dass vor dem Fahrrad ein Kastenwagen geparkt hat. Es hätte auch Tote geben können”, sagt er. Emine K. schüttete beherzt Wasser über den Mann vor ihrer Tür, dessen Beine brannten, und fiel dann in Ohnmacht. Sie leidet seit damals an Schlafproblemen, Albträumen, Konzentrationsschwäche.
Fatih K. (29): „Als wäre ein Krieg ausgebrochen. Wir kamen mit anderen Geschädigten in einen Bus, fuhren zum Krankenhaus. Der Arzt sah sich meine Ohren an. Ich hatte Verletzungen am Hinterkopf, mehrere Brandlöcher in der Kleidung. Das Innenohr war verletzt, entzündet sich seitdem immer wieder.”
Attila Ö. (40): „Überall Rauch, überall Krach. Spraydosen platzten. Irgendjemand sagte mir, ich würde überall bluten. Von den Nägeln kam das. Ich bin raus, habe mich auf den Bürgersteig gesetzt. Die Sanitäter leisteten Erste Hilfe, später im Krankenhaus wurden die Platzwunden genäht. An der Stirn, am Arm, am Hinterkopf.“
„Sie haben mich da bis Mitternacht vernommen, ich musste mich bis auf die Unterhose ausziehen. Die Polizei nahm meine Fingerabdrücke, machte einen DNA-Test. Die haben mich wie einen Beschuldigten behandelt. Ob ich Leute vom Rotlicht-Milieu, vom Drogen-Milieu kenne, von der PKK?“
Abdulla Ö. (40) ist heute geräuschempfindlich. Bei Gewitter könne er nicht mehr Auto fahren. Nebenklage-Anwalt Daimagüler fragt: „Haben Sie nach dem Anschlag mal erwogen, Deutschland zu verlassen?” Abdulla: „Ich bin in Köln geboren. Ich bin ein deutsch-türkischer Kölscher Junge. Köln ist meine Heimatstadt. Deutschland ist meine Heimat”.
Hasan Y. arbeitete im Friseurladen seines Bruders, er hat der Polizei den Mann beschreiben können, der das präparierte Fahrrad zwischen halb vier und vier Uhr vor dem Geschäft abstellte: 1,80 Meter groß, mit Baseballkappe, 30 bis 35 Jahre alt, und mit blonden Koteletten, die unter der Kappe zu sehen waren: „Kann es nicht sein, dass die Koteletten doch dunkel waren?“ Von einem blonden Tatverdächtigen wollten die Ermittler offenbar nichts wissen.
Arif S. kann nachts nicht schlafen, er sei nervös, er könne nicht in ein Flugzeug steigen und nicht Fahrstuhl fahren. Er meidet enge Räume. „Die Polizei hat mich schlecht behandelt.“ Als er als Täter Nazis vermutete, habe ein Beamter den Finger vor den Mund gehalten und „Pssst!“ gesagt.
Rentnerin Gerlinde B. beschreibt, wie behutsam ein junger Mann sein neues Fahrrad vor sich herschob. „Das Rad war ganz neu, die Speichen blinkten, es hatte keinen Platten. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen“, sagt sie. Auf dem Gepäckträger befand sich die schwarze Hartschalenbox mit der Nagelbombe, die wenig später per Fernzündung detonierte. Zwei Kripobeamten befragten sie. Ob es sich nicht doch um einen Türken oder Kurden gehandelt haben könne? Nein. Auf dem Video erkannte sie den Radfahrer. Die Polizei verfolgte auch ihre Hinweise nicht.
Ein 57-jähriger Feuerwehrmann kam gerade aus einer Werkstatt Ecke Markgrafenstraße, als ein Radfahrer im großen Bogen aus der Keupstraße gerast sei und ihn fast umgefahren hätte. Halblange Treckinghose, Sandalen und Sonnenbrille. Die Polizei nahm die Aussage des Feuerwehrmanns zu Protokoll. Auf den Bildern der Videoaufnahmen, die am nächsten Tag im Kölner Express abgedruckt wurden, erkannte er den Raser wieder. Aber seine Beobachtungen wurden nicht ernst genommen. „Stattdessen wurde ich gefragt, was ich in der Keupstraße zu suchen hatte. Als ob ich die Bombe abgelegt hätte!“

 


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