Frankreich: Rien ne va plus
Hunderttausende auf der Straße
17.12.2019 | Seit dem 5. Dezember sind Hunderttausende gegen die geplante Rentenreform auf der Straße ++ Eisenbahn und Metro stehen still ++ LKW-Fahrer im Streik ++ Regierung bleibt unnachgiebig, Gewerkschaften künden härteren Kampf an ++ Georg Polikeit informiert über die Punkte, an denen sich der Protest entzündet.
Eine solche Situation in Deutschland ist für die meisten Deutschen kaum vorstellbar: ein seit fast 14 Tagen anhaltender landesweiter Streik der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner legt den Personen- und Güterverkehr weitgehend lahm. Und parallel dazu über den gleichen Zeitraum eine weitgehende Stilllegung des öffentlichen Nahverkehrs in den meisten Großstädten und Ballungsgebieten, einschließlich des gesamten Vorortverkehrs. Plus dreimal in diesen 14 Tagen Hunderttausende auf den Straßen bei Demonstrationen der Gewerkschaften, ebenfalls verbunden mit Streiks in vielen Betrieben und Büros, im gesamten Schul- und Bildungswesen, bei Kindertagesstätten, in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen, bei Elektrizitätswerken, Raffinerien und Treibstoffdepots, in den Seehäfen und im Straßengüterverkehr, in vielen staatlichen und kommunalen Dienststellen, bei Anwälten und Gerichten.
Da darf man die soziale Protestbewegung, die die Französinnen und Franzosen seit dem 5. Dezember gezeigt haben, wohl doch schon als außergewöhnlich bezeichnen. Und es sieht alles danach aus, dass diese Bewegung auch über die Feiertage anhalten wird, es möglicherweise zu Weihnachten nur eingeschränkten Zugverkehr geben kann und die Bewegung Anfang des neuen Jahres vielleicht mit verstärkter Kraft fortgesetzt werden wird.
Der letzte Stand am 16. Dezember war, dass auch am letzten Wochenende (14./15 Dezember) und am Montagvormittag (16.12.) der Streik bei der Eisenbahn weithin anhielt. Die Direktion der Staatsbahn SNCF hatte trotz aller Bemühungen im Durchschnitt nur ein von vier fahrplanmäßig vorgesehenen Schnellzügen, ein von fünf Intercitys und drei von zehn Regionalzügen zum Fahren bringen können. Bei der Pariser Metro blieben acht Linien auch an diesem Wochenende und dem folgenden Montag wie alle vorhergehenden Tage seit dem 5.12. völlig geschlossen. Bei fünf weiteren war der Verkehr laut der Direktion «sehr gestört». Metros fuhren fast überall nur vereinzelt, hauptsächlich in den Spitzenzeiten morgens und abends, manche Strecken konnten nur mit vereinzelten Bussen im Ersatzverkehr bedient werden. Nur zwei vollautomatisierte Metrolinien funktionierten uneingeschränkt. Der städtische Busverkehr soll laut Direktion zu 60 % abgesichert worden sein. Aber zugleich wurden am 16. Dezember morgens um neun Uhr 628 Kilometer Stau im Großraum Paris registriert.
SNCF-Chef Farandou sah sich veranlasst, die streikenden Eisenbahner*innen dazu aufzurufen, wenigstens während der Feiertage «eine Pause zu machen», weil sich an diesen Tagen Millionen Menschen, Familien, Kinder mit ihren Eltern, Verwandte und Freunde zusammenfinden wollen und sie «nur schwerlich verstehen würden», dass die Züge nicht fahren. Das war ein erneuter Versuch, die Öffentlichkeit gegen die Streikenden und die «starrsinnigen» Gewerkschaften aufzubringen.
Aber aus Gewerkschaftskreisen kam prompt die Antwort: das beste Mittel, damit es an Weihnachten Züge gibt, sei eine positive Antwort der Direktion auf die gewerkschaftlichen Forderungen noch vor dem 17. Dezember. Der Generalsekretär der Eisenbahnergewerkschaft der CGT, Laurent Brun, erklärte in aller Klarheit: «Es sind die Streikenden, die entscheiden. Aber offen gesagt, für uns ist es 'Nein'. Wir sind auch für einen Stopp des Streiks vor Weihnachten. Die Regierung verfügt also über eine Woche, um den Rückzug ihres Vorhabens zu verkünden, und wenn sie das tut, kann der Konflikt sehr schnell beendet werden. Aber im gegenteiligen Fall kommt das nicht infrage».
Auch am 17. Dezember waren wieder Hunderttausende gegen die Rentenreform auf der Straße |
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Auch CGT-Generalsekretär Philippe Martinez sagte, wenn die Regierung ihr Projekt zurückziehe und ernsthaft darüber reden will, wie das gegenwärtige System zu verbessern ist, «eh bien, dann geht alles gut. Wenn nicht, werden die Streikenden entscheiden, was sie am Donnerstag und Freitag tun». In einigen Betriebsteilen der SNCF haben die Beschäftigten auf Vollversammlungen bereits über die Fortsetzung des Streiks auch während der Feiertage und bis zum Jahresende abgestimmt. Laut einer Umfrage von IFOP für das «Journal de dimanche» (Sonntagszeitung) haben genau wie in der Vorwoche 54 Prozent der Befragten an diesem Wochenende ihre Unterstützung für den Streik erklärt, während 30 Prozent ihre Ablehnung bekundeten.
Fehlgeschlagene Abwiegelungsversuche
Die von Macrons rechtskonservativem Regierungschef Philippe am 11. Dezember verkündeten «Einzelheiten» zu den Rentenreformplänen der Regierung und die dabei angeblich gemachten «Konzessionen» haben nicht die erhoffte Wirkung gehabt. Im Gegenteil: dem Regierungschef ist das Kunststück gelungen, nun auch noch die «reformistischen» Gewerkschaften CFDT und UNSA, die bisher stillgehalten und das Regierungsvorhaben im Prinzip bejaht haben, gegen das Projekt aufzubringen. Nach Philippes «Erläuterungen» sahen sich selbst diese auf «Sozialpartnerschaft» festgelegten Gewerkschaftsbünde veranlasst, ihre Mitglieder nun ebenfalls zu Aktionen am 17. Dezember aufzurufen.
Zuvor hatten schon die fünf Gewerkschaftsbünde CGT, Solidaires, Force Ouvrière, FSU und CFE-CGC, die sich aus Anlass der Rentenreformpläne der Regierung zu einer «Intersyndicale» zusammengetan haben, sowie die mit ihnen verbündeten Schülerverbände MNL (Nationale Bewegung der Oberschüler) und UNL (Nationale Union der Oberschüler) und der nationale Studentenverband UNEF für diesen 17. Dezember zu einem dritten landesweiten gewerkschaftlichen Aktionstag aufgerufen, erneut verbunden mit örtlichen Streiks und Demonstrationen sowohl in der Privatwirtschaft wie in den öffentlichen Unternehmen und Dienststellen.
17.12.2019 |
Beim ersten Aktionstag am 5. Dezember hatten sich nach CGT-Angaben rund 1,5 Millionen Menschen in mehr als 250 Orten an den Demos beteiligt und selbst das französische Innenministerium nannte eine Beteiligung von mehr als 800.000. Beim zweiten Aktionstag am 10. Dezember waren es nach Gewerkschaftsangaben 885.000, nach dem Innenministerium 339.000. Es war also zu erwarten, dass die Beteiligung am 17. Dezember diese Zahlen mindestens erneut erreichen, wahrscheinlich aber übertreffen und wieder die Millionengrenze erreichen und vielleicht überschreiten wird.
«Äquivalenz-Alter» ab 64 Jahren
Der Knackpunkt dafür, dass auch die reformistischen Gewerkschaften zu Aktionen am 17.12. aufriefen, war die Missachtung der von ihnen verkündeten «roten Linie» durch die Regierung, nämlich dass die vorgesehene Rentenreform nicht mit haushaltspolitischen Sparmaßnahmen im Rentensystem verknüpft werden dürfe.
Premierminister Philippe hatte aber bei seinen Erläuterungen am 11.12. in gewohnter Arroganz gegenüber Gewerkschaftsforderungen dennoch angekündigt, dass an der Einführung eines «Äquivalenzalters» von 64 Jahren für den Bezug einer normalen Vollrente festgehalten wird, um damit ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben im neuen Rentensystem ohne Defizit abzusichern. Das heißt, das bisher geltende Renteneintrittsalter ab 62 Jahren bleibt zwar formal beibehalten, aber wer zu diesem Zeitpunkt, also vor dem «Äquivalenzalter» von 64 Jahren tatsächlich in Rente gehen will, muss Abschläge bei der Rentenhöhe von 5 Prozent pro Jahr hinnehmen. De facto läuft das auf eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre und damit eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit für die große Mehrheit der Beschäftigten hinaus. Und dies, obwohl Arbeitsmediziner seit längerem feststellen, dass viele Lohnabhängige oft schon viel früher von ihrer Berufstätigkeit so gestresst und gesundheitlich geschädigt sind, dass sie ihren Beruf eigentlich nicht mehr ausüben sollten.
Die angeblichen «Zugeständnisse» von Premier Philippe am 11.12. erwiesen sich bei genauerer Betrachtung nur als ein taktisches Manöver nach dem Motto: Nachgeben in Einzelheiten, um Leichtgläubige zu täuschen, die Arbeiter und Angestellten und ihre Gewerkschaften zu spalten und den neoliberalen reaktionären Kern des ganzen Vorhabens umso besser durchsetzen zu können.
Vor allem machte Philippe am 11.12. klar, dass es bei der Abschaffung der bisher geltenden, 42 unterschiedlichen Rentensysteme bleiben soll, die aus verschiedenen Gründen historisch entstanden und zum Teil mit positiven Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen verbunden sind, u. a. mit einem früherer Rentenbeginn schon ab 58 oder 59 Jahren (wenn sie schon mit 15 oder 16 Jahren als Lohnabhängige zu arbeiten begonnen, also eine besonders lange Berufstätigkeit hinter sich haben, oder für bestimmte Berufsgruppen mit besonders anstrengenden, beschwerlichen oder gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten, wenn sie mit viel Nacht-, Sonntags- und wechselnde Schichtarbeit verbunden sind, z. B. Lokführer, Krankenhauspersonal, Lkw- und Bus-Fahrer oder Fahrpersonal im öffentlichen Nahverkehr). Jedoch bezahlen z.B. Feuerwehrleute wie die meisten anderen betroffenen Berufsgruppen auch Sonderbeiträge, um früher in Rente gehen zu können.
Von Regierungsseite wurden diese Sonderregelungen generell als heute ungerechtfertigte und aus alten Zeiten stammende überholte «Privilegien» diffamiert. Sie sollen angeblich aus Gründen der Gleichbehandlung aller Berufstätigen durch ein einheitliches «universelles Rentensystem nach Punkten» ersetzt werden, bei dem jeder und jede Beschäftigte pro eingezahltem Euro Beitrag in die Altersversorgung gleich viel Rentenpunkte angeschrieben bekommt, die bei Renteneintritt dann in eine entsprechende Geldsumme umgerechnet werden.
Was hier als Anwendung des Gleichheitsprinzips dargestellt wird, beseitigt allerdings nicht die reale Ungleichheit der individuellen Berufslaufbahnen mit unterschiedlichen Einkommenshöhen und unterschiedlichen Beschäftigungszeiten, früherem oder späterem Eintritt ins Berufsleben infolge Studium oder anderen Qualifizierungszeiten, zeitweiser und oft unterbrochener oder langanhaltender Tätigkeit in Niedriglohnjobs oder Zeiten der Arbeitslosigkeit und Krankheit. insbesondere aber auch die Ungleichheit zwischen Männer- und Frauenlöhnen. Diese reale Unterschiedlichkeit der Berufslaufbahnen wird bei dem von Macron gewollten «universellen» Rentensystem nicht genügend berücksichtigt.
Niedrigere Renten durch anderes Berechnungssystem
Das Macron-System sieht auch eine Änderung der Berechnungsgrundlagen für die Rentenhöhe vor. Bisher war die Rentenhöhe abhängig von der Dauer der Berufstätigkeit und von den nach der Höhe des Verdiensts eingezahlten Beiträgen in die Altersversicherung. Dabei wurden für die Festlegung der Rentenhöhe die 25 besten Jahre mit dem höchsten Verdienst (in der Privatwirtschaft) oder die letzten sechs Monate vor Renteneintritt (bei Beschäftigten im öffentlichen Dienst und öffentlichen Unternehmen) zugrunde gelegt.
Nach dem neuen System sollen über die Punkte aber die Beiträge in allen Jahren der gesamten Berufstätigkeit zugrunde gelegt werden, einschließlich aller Zeiten niedrig entlohnter Teilzeitjobs mit vielen Unterbrechungen und Zeiten der Arbeitslosigkeit. Daraus lässt sich schon rein mathematisch ablesen, dass für die meisten Betroffenen nach dem neuen System eine niedrigere Rente herauskommen wird als nach dem bisherigen Berechnungssystem.
Darüber hinaus ist der Wert der angesammelten Rentenpunkte, wenn das individuelle Punktekonto am Ende des Arbeitslebens in eine bestimmte Geldsumme umgerechnet wird, keine feststehende Größe. Er soll vielmehr von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung, beispielsweise von der Gesamtentwicklung der Preise und Löhne abhängig sein. Es lässt sich also nicht im Voraus berechnen, wie hoch am Ende die individuelle Rente sein wird. Noch offen ist auch, wie die Umrechnungsformel letztlich genau aussehen wird und wer darüber zu entscheiden hat. Damit bleibt bei dem neuen System auch die Ungleichheit von Männer- und Frauenrenten, weil die Frauen aufgrund der niedrigeren Frauenlöhne bei gleicher Beschäftigung auch weniger Punkte auf ihrem Konto haben werden.
Mindestrente auf Armutshöhe
Als soziale Errungenschaft wurde auch die Ankündigung von Premier Philippe dargestellt, dass das neue Rentensystem mit der Einführung einer Mindestrente von 1.000 € pro Monat verbunden sein soll. Faktisch bedeutet das aber die Festlegung der Mindestrente auf die Höhe der derzeit geltenden statistischen Armutsgrenze – für die Gewerkschaften der reine Hohn! Die CGT fordert die Einführung einer Mindestrente von 1.800 €.
Täuschungsmanöver mit angeblicher
Beschränkung auf Jüngere
Zu den größten Coups, mit denen Philippe die Opposition gegen seine Rentenreform abwiegeln und spalten wollte, gehört auch die Ankündigung, dass das neue System überhaupt nur für die jüngeren Jahrgänge, erst für die nach dem Jahr 1975 Geborenen gelten soll, womit die Einführung des neuen Systems praktisch auf das Jahr 2037 hinausgeschoben werde. Für alle älteren Jahrgänge soll das bisherige Rentensystem weiter gelten, sich also für sie an ihren Renten überhaupt nichts ändern.
Kaschiert werden sollte damit aber, dass Philippe in der gleichen Rede ankündigte, dass das mit dieser «Reform» vorgesehene «Äquivalenzalter» von 64 Jahren für den Bezug einer Vollrente bereits im Jahr 2022 eingeführt werden soll, und zwar für alle Rentensysteme und Altersgruppen, nicht nur für die Jüngeren. Das heißt, die Parole «Für die Älteren ändert sich gar nichts» stimmte nicht. Sie war und ist ein Täuschungsversuch.
Alle werden Verlierer sein
Die CGT hat also recht, wenn sie in einem ihrer Flugblätter für den 17. Dezember über das Regierungsvorhaben schrieb: «Das wird ein Rückschritt für alle Altersklassen und alle Berufe sein. Das ist die Universalität nach unten! Das ist ab jetzt die allgemeine Absenkung der Renten und die Verlängerung der Arbeitsdauer… Lohnabhängig Beschäftigte der Privatwirtschaft wie des öffentlichen Sektors, mit oder ohne Spezialregime – alle werden Verlierer sein. Schlimmer noch: die Jugend wird geopfert, da das neue System ab 2022 uneingeschränkt auf Jugendliche ab 18 Jahren angewandt wird… Die Reform verurteilt die Jugend, die Beschäftigten mit prekären Arbeitsverträgen und die Frauen zu Armutsrenten.»
Geschenk für die Versicherungskonzerne
Recht hat die Gewerkschaft offensichtlich auch mit ihrer Feststellung: «Diese Reform ist ein Geschenk für die privaten Versicherungsunternehmen, deren Erfinder Jean-Paul Delevoye, Hochkommissar für die Renten, ihr Vertrauter ist». Gemeint ist damit der mit der Rentenreform beauftragte Hochkommissar Delevoye, den Macron im September zum Regierungsmitglied im Ministerrang ernannt hat. Anfang Dezember kam heraus, dass dieser Mann bei der gesetzlich vorgeschriebenen Angabe von Nebentätigkeiten für hohe Regierungsbeamte in mehreren Fällen ganz zufällig vergessen hat, seine Tätigkeiten für verschiedene Einrichtungen der Versicherungswirtschaft wie den mit 5.000 € pro Monat dotierten Posten als Leiter eines Ausbildungszentrums für Angestellte der Versicherungswirtschaft anzugeben. Statt dreizehn inzwischen eingestandenen Nebenbeschäftigungen, einige davon allerdings rein ehrenamtlich, hatte er ursprünglich nur drei angegeben. Am Montag (16.12.) trat er auf eigenen Wunsch zurück, nicht ohne sich als Opfer von «gewaltsamen Angriffen und einem Gemisch aus Lügen» zu bezeichnen.
Das kann allerdings nicht verwischen, dass private Versicherungskonzerne wie Axa oder die Allianz in der Tat darauf hoffen und ihr Personal bereit darauf einstellen, die Beschäftigten für den Abschluss von privaten Zusatzversicherungen zu gewinnen, wenn die Rentenreform der Regierung wie vorgesehen Wirklichkeit wird. Anfang Dezember wurde bekannt, dass auch der berüchtigte US-amerikanische Finanzgigant und Pensionsfond BlackRock mit seinen Lobbyisten bereits mehrfach bei verschiedenen Regierungsinstanzen sein Interesse für die Einzelheiten der geplanten französischen Rentenreform bekundet hat.
Eine alternative, des 21. Jahrhunderts
würdige Rentenreform ist möglich
Nach dem gewerkschaftsgeführten sozialen Aufstand seit dem 5. Dezember ist klar: die Französinnen und Franzosen wollen sich für die Zeit ihrer Rente von Staatspräsident Macron und seiner Regierung nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Sie wollen soziale Errungenschaften, die zum Teil bis auf die ersten Jahre nach der Befreiung des Landes vom deutschen Faschismus zurückgehen, nicht wegnehmen lassen. Sie wollen nicht, weil die Menschen heute dank medizinischer, sozialer und technischer Fortschritte im Durchschnitt länger leben und älter werden, auch länger arbeiten müssen und dafür auch noch weniger Rente als bisher bekommen.
Die Logik, dass wer länger lebt, auch länger arbeiten müsse, ist nach Ansicht der kampfentschlossenen französischen Gewerkschaften eine rein kapitalistische Logik. Sie entspricht dem Interesse der Unternehmer, die Menschen zum längeren Arbeiten zu zwingen, damit sie ihnen durch diese Arbeit länger Gewinne und Reichtum schaffen.
Im Gegensatz dazu ist angesichts der durch die neuen digitalen Techniken gewaltig gesteigerte Produktivität eine weitere Verkürzung sowohl der Wochen- als auch der Lebensarbeitszeit notwendig und auch möglich und finanzierbar. Die längere Lebenszeit der Menschen muss nicht zwangsläufig der Steigerung des Mehrwerts und des Reichtums des Finanzkapitals dienen. Sie kann zu einem erfreulichen gesellschaftlichen Fortschritt werden, wenn die mit den Produktivitätsfortschritten möglich werdende Verkürzung der Arbeitszeit mit einer entsprechenden Umverteilung des gemeinsam erzeugten gesellschaftlichen Reichtums verbunden wird.
Die CGT stellte deshalb in einer Erklärung fest: «Da steht Projekt gegen Projekt. Die Regierung bereitet eine Gesellschaft vor, wo Prekarität (Unsicherheit der Existenz) und Armut die Norm wären. Die CGT ihrerseits schlägt ein anderes Sozialmodell vor, das auf der Solidarität und der Verbesserung der Rechte (der lohnabhängig Beschäftigten) beruht, indem das derzeitige System weiter verbessert wird: Rente ab 60, Lohnersatzquote von 75 % (des bisherigen Verdiensts), vorgezogener Rentenbeginn für beschwerliche Tätigkeiten, Mindestrente bei 1800 Euro. Dies alles kann finanziert werden, wenn die Löhne erhöht, stabile Beschäftigungsverhältnisse geschaffen, das Spektrum der Beitragszahler erweitert werden und mit den Milliarden Euro ausmachenden Beitragsbefreiungen Schluss gemacht wird.»
Mit anderen Worten: die französischen Gewerkschaften verteidigen nicht auf Biegen und Brechen das bisherige Rentensystem. Statt Verschlechterungen wollen sie es aber weiter zugunsten der Beschäftigten ausgebaut und verbessert sehen. Sie haben Vorschläge für eine Alternative zu den Regierungsplänen vorgelegt, doch die Regierung, die ständig den «Dialog» zwischen ihr und den «Sozialpartnern» anmahnt, weigerte sich bisher hartnäckig, über diese Alternativvorschläge auch nur die Diskussion zu eröffnen. Unübersehbar würde ein diesen Vorschlägen entsprechendes Rentensystem eine andere Verteilung des gesellschaftlichen erarbeiteten Reichtums erfordern. Offensichtlich ist das der entscheidende Punkt, warum Staatschef Macron, der «Präsident der Reichen», wie er von vielen in Frankreich genannt wird, nicht bereit ist, darauf einzugehen.
Text: Georg Polikeit
Fotos: cgt
Quelle: kommunisten.de