Die Wahlen, das Abschneiden der AfD und die soziale Lage
Das folgende Referat hat Klaus in anderer Form schon vor dem VVN-Landesausschuss und im KV gehalten. Für die Gruppe Innenstadt sind einige Kürzungen (insbesonders Zahlenmaterial zum Ausgang der Landtagswahlen) vorgenommen worden, dafür aber einige Sätze zum Thema Riesterrente ergänzt worden, ebenso wie solche zur Programmatik der AfD.
Landespolitik und AfD
die rapiden Stimmenzuwächse für die AfD bei den hessischen Kommunalwahlen am 6. März und den Landtagswahlen in drei Bundesländern am 13. März ist vielen in die Knochen gefahren. Kurz die Zahlen: Bei den Kommunalwahlen kam die AfD (im Gesamtergebnis aller hessischen Stimmen) auf 11,9 % der Stimmen. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt auf 24,3%. Hier stieg die Wahlbeteiligung um 9,9 % auf 61,1% (2011: 51,2%, 2006: 44,4%). In Baden-Württemberg stieg die Wahlbeteiligung von 66,3% auf 70,4%. Die AfD konnte aus dem Stand 800.000 Stimmen (=15,1%) gewinnen. In Rheinland-Pfalz ist die Wahlbeteiligung ebenfalls signifikant, von 61,8% auf 70,4%, gestiegen. AfD kam auf 12,6% der Stimmen.
Der ARD-Deutschland-Trend vom 8. April lautete: Die SPD ist auf 21 Prozent abgerutscht, das sind zwei Punkte weniger als im März. Auch die Union verliert zwei Punkte und kommt auf 34 Prozent. Die Grünen legen deutschlandweit auf 13 Prozent zu (plus 3). Die Linke erreicht 7 Prozent (minus 2), die FDP ebenfalls 7 (plus 1). Die AfD kommt auf 14 Punkte (plus 3 Prozent).
Mit Bezug auf solche Zahlen habe ich am 9. April vor dem Landesausschuss der VVN referiert, am vergangenen Dienstag im Kreisvorstand und wenigstens versucht, auf der sogenannten Aktivtagung des Bezirks vorgestern die Behandlung dieses Themas auf den Arbeitsplan des BV zu setzen. Denn uns stehen am 14. Mai 2017 die NRW-Landtagswahl bevor, der vier Monate später die Bundestagswahl folgen wird. Und man kann davon ausgehen, dass diese Landtagswahl auf das Ergebnis der Bundestagswahl abstrahlen wird. Denn NRW ist das bevölkerungsreichste Bundesland, hier wohnt ein Viertel der Einwohner der Bundesrepublik.
Diese enge Abfolge von Landtagswahl und Bundestagswahl ist eine Folge der Niederlage der SPD bei der NRW-Landtagswahl 2005. Sie hat uns die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen im September desselben Jahres beschert. Ihr werdet Euch vielleicht an das Gesicht von Schröder erinnern, als er in der Diskussionsrunde am Wahlabend des 18. September 2005 seine Niederlage nicht glauben wollte.
Liebe Genossinnen und Genossen,
noch 1980 gab es in der Bundesrepublik 900.000 Arbeitslose, nach der Wende, in den Jahren 1991 bis 1997, stieg sie von 2,6 Millionen auf 4,4 Millionen, von 0,9% (1980) auf 9,6%. Das beunruhigte und wurde zum Thema Nr. 1 in der Öffentlichkeit, zumal sich in den Jahren 1997 und 1998 eine europaweite Bewegung gegen Arbeitslosigkeit entwickelte. In Frankreich kam im Juli 1997 eine Regierung mit kommunistischer Beteiligung zustande, auf deren Agenda die 35-Stundenwoche stand. Ein Höhepunkt der Bewegung gegen Arbeitslosigkeit war der Abschluss der Euromärsche am 14. Juni 1997 anläßlich der Euro-Konferenz in Amsterdam, als die EU ihre sogenannte Beschäftigungspolitik normierte. Überall in der Bundesrepublik wirkten Gruppen von Arbeitslosen. IG Metall und andere Gewerkschaften fassten aktionsorientierte Beschlüsse zum Thema. In Düsseldorf organisierte die Arbeitsloseninitiative mit Beginn des Jahres 1998 einmal im Monat eine Aktion vor dem Arbeitsamt, häufig verbunden mit Demonstrationen. Die Arbeitslosen selbst unterschätzten schon mal wegen mangelnder Beteiligung der Betroffenen die Durchschlagskraft dieser Aktivitäten. Aber diese und die Aktivitäten in anderen Städten, natürlich auch in Köln, bundesweit vernetzt und mit bundesweiten Aktionen ergänzt, sorgten dafür, dass das Thema über das ganze Jahr 1998 hin akut blieb.
In seiner ersten Regierungserklärung am 10. November 1998 sagte der neue Bundeskanzler Schröder: „Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt. Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend zu führen. Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischer Normalität und Ausdruck eines gewachsenen demokratischen Selbstbewußtseins. Ich denke, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können alle stolz darauf sein, dass die Menschen in Deutschland rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Abfuhr erteilt haben.“ „Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren darüber, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können. Genau dieser Herausforderung werden wir uns stellen.“
Ich teile diese Einschätzung. Tatsächlich hatte das Thema Arbeitslosigkeit den Wahlkampf beherrscht. Nach Angaben der Forschungsgruppe Wahlen wurde es über das gesamte Jahr 1998 als wichtigstes Thema genannt, immerhin sagten das zwischen 83 und 91 % der Deutschen. Das Thema Asyl/Ausländer kam in diesen Umfragen nur auf 8 bis 16%.
Auf welche Weise die Regierung sich der Herausforderung Arbeitslosigkeit aber stellen wollte, teilte Bodo Hombach, kaum war er Chef des Bundeskanzleramtes, wenige Tage nach der Wahl dem SPIEGEL mit. Er wollte den „Abschied vom Sozialstaat alten Typs“, erkannte die „geringe Erwerbsneigung“ von Arbeitslosen und folgerte, dass sozialstaatliche Transferleistungen die Phasen der Erwerbslosigkeit verlängern, weil sie die Subventionsmentalität verfestigen. „Der Sozialstaat, bisher als Netz verstanden, muß künftig als Trampolin wirken - als eine Absprungsmöglichkeit in den regulären Arbeitsmarkt.“ Das Bild vom Trampolin wurde wenig später von Schröder übernommen. Im selben Interview erörterte er auch seine Vorstellungen zu einer Rentenreform.
Zunächst stellte er die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung in Zweifel. Nur der wachsenden Bereitschaft zur privaten Vorsorge sei es zu verdanken, daß Altersarmut bisher kein alltägliches Phänomen sei. Dann warb er für eine „Garantierente“, nannte das Beispiel der Niederlande, wo eine vom Staat garantierte Grundrente in Form einer Volksversicherung dafür sorge, daß die Bereitschaft, sich auf eine flexiblere Erwerbsbiographie einzulassen, sehr viel größer sei als bei uns. Die Grundrente betrage für jedermann 70 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns.
Das sei das „Cappuccino-Prinzip“: Die Betriebsrenten bilden die Sahne auf dem Kaffee der Volksversicherung. Beides zusammen lasse soviel Spielraum, daß sich immer mehr Versicherte eine zusätzliche private Altersversorgung zusammenstellen - die Schokostreusel auf der Sahne also. Es ging ihm bei der künftigen Rente um einen Anteil, der durch Kapital zu decken sei.
So kam es.
Aber zunächst beanspruchten andere Aufgaben die Aufmerksamkeit der rotgrünen Regierung.
Im März 1999 trat Lafontaine als Finanzminister zurück. Seinen Posten übernahm Eichel. Der benötigte auch einen neuen Staatssekretär. Dafür stand Heribert Zitzelsberger (1939-2003) zur Verfügung. Zitzelsberger war bis dahin im Bayer-Vorstand für die Bilanzen zuständig. Der Wechsel ins Finanzministerium bedeutete für ihn einen sozialen Abstieg, möchte man meinen. Das Opfer scheint ihm aber erträglich gemacht worden zu sein. Manfred Schneider, Vorstandsvorsitzender von Bayer, sagte wenig später, am 30. April 1999, auf der Aktionärsversammlung von Bayer: „Wir sandten unseren besten Mann mit Instruktionen, so dass nun nichts mehr schief gehen sollte.“
Zitzelsberger hatte in seiner Zeit bei Bayer noch die Muße, sich wissenschaftlich auszuzeichnen und seine Habilitationsschrift fertig zu stellen. Ihr Thema ist die Theorie der Gewerbesteuer. Vielleicht würden wir nach der Lektüre wissen, warum Bayer weder in Leverkusen noch in den anderen Standorten in NRW Gewerbesteuer zahlt - außer in Monheim. Als Finanzstaatssekretär sorgte Steuerfachmann Zitzelsberger bald schon für Überraschungen. Kurz vor Weihnachten ging Eichel mit dem Vorschlag in die Öffentlichkeit, Veräußerungsgewinne bei Aktienverkäufen künftig nicht mehr zu besteuern.
Zitzelsbergers Handschrift trägt auch das Steuerminderungsgesetz, das am 1. Januar 2001 in Kraft trat, wonach die Körperschaftsteuer von 30 bzw. 40 % einheitlich auf 25% gesenkt wurde.
Diese Steuersenkung erbrachte den bundesdeutschen Großkonzernen über 22,5 Milliarden DM im Jahr. Es kam aber noch etwas hinzu. Denn es galten vorher unterschiedliche Sätze, nämlich 40% für die einbehaltenen, 30% für die ausgeschütteten Gewinne. Der Clou: Bei späterer Ausschüttung vormals einbehaltener Gewinne bis zum Ende des Jahres 2001 zahlte der Fiskus diese Differenz zurück. Das lohnte sich. Insgesamt wurden über 15 Mrd. DM Rückzahlungen fällig. Das Gesetz war übrigens im Oktober 2000 damit begründet worden, daß die Steuersenkungen den Produktionsstandort Deutschland für ausländische Investoren attraktiver machen und in der Folge Arbeitsplätze schaffen sollten, also im Sinne von Schröders Regierungserklärung Arbeitslosigkeit bekämpfen würde.
In NRW fehlten auf Grund der Rückzahlungen 1,6 Mrd Euro im Landeshaushalt, mindestens 250 Millionen gingen damals an Bayer, der Rest an drei weitere Großkonzerne (Telekom, Vodafone, RWE?). Damals war Steinbrück unter Wolfgang Clement Finanzminister. Er kompensierte diesen Verlust, in dem er just um diese Summe die Gehälter und das Weihnachtsgeld der Landesbeamten kürzte und ihre Arbeitszeit auf 41 Wochenstunden verlängerte. Auf der NRW-weiten Demonstration am 24. September 2003 rechnete der Vertreter der Polizeigewerkschaft GdP den 30 000 Demonstranten vor, daß der Verlust 10% der Bezüge betrage. Aber ich greife vor, denn das war schon ein Jahr nach der Bundestagswahl vom September 2002, auf die ich gleich zu sprechen komme.
Im Juni 1999, daran wird sich der eine oder andere erinnern, wurde das Schröder-Blair-Papier veröffentlicht. Die geplante Sozialgesetzreform, bekannt unter dem Namen Hartz IV, wurde Thema im Wahlkampf 2002.
Schon am 26. Juni 2001 trat das sogenannte Altersvermögensgesetz in Kraft, bekannt als Riester-Rente. Das Altervermögensgesetz hatte vorgeblich zum Ziel, „die Rentenversicherung auch langfristig für die jüngere Generation bezahlbar zu erhalten und ihr im Alter einen angemessenen Lebensstandard zu sichern". So wurde die Begrenzung des Beitragssatzes begründet sowie das fällige Sinken des Rentenniveaus und der Ausgleich durch zusätzliche private, staatlich geförderte Vorsorge. Kapitalgedeckte Alterversorgung sollte Teile der bislang ausschließlich umlagefinanzierten Rente zur Freude der Versicherungskonzerne ersetzen. Der unausgesprochende Zweck der Aktion war indes die langfristige Reduzierung der Arbeitgeberanteile an der Rentenversicherung ebenso wie am 1. April 2007 mit der Reform der gesetzlichen Krankenversicherung durchgesetzt wurde, daß künftige Erhöhungen nur noch die Arbeitnehmer belasten. Albrecht Müller stellte fest: „Man kann die Entscheidung für den teuren Umweg zur kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge nur verstehen, wenn man fragt, wer daran verdient: Die Finanzwirtschaft, die an der Umstellung beteiligten Wissenschaftler und auch viele Politiker. Die Zerstörung der gesetzlichen Rente zugunsten einer privaten Altersvorsorge ist ein heutzutage leider typischer Fall von politischer Korruption.“
In der Tat ist die Explosion von Altersarmut nicht mehr zu leugnen. Die Riester-Rente ist gescheitert. Mittlerweile ist das Thema bei Seehofer angekommen und bei der CDU, die damit noch Wahlkampf machen wird.
Walter Riester (* 1943) war von 1980 bis 1988 Bezirkssekretär beim IG Metall Bezirk Baden-Württemberg, dann Bezirksleiter. Von 1993 bis 1998 war er Zweiter Vorsitzender der IG Metall und in den Jahren 1976 bis 1998 Aufsichtsratmitglied verschiedener deutscher Unternehmen (Bosch, Daimler-Chrysler, Thyssen, Audi, Rheinmetall, Heidelberger Druckmaschinen, WMF). In Schröders Regierung war er von 1998 bis 2002 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Danach bis 2009 MdB. Neben seiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter trat er als Referent bei verschiedensten Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche in Erscheinung. Zum 1. Oktober 2009 wurde Walter Riester Aufsichtsrat des Finanzdienstleisters Union Asset Management Holding. Die geschäftlichen Verbindungen Riesters (und Bert Rürups) zum Finanzdienstleister AWD (bekanntlich ist Maschmeyer Eigentümer) kritisiert Transparency International Deutschland als „Beispiel für politische Korruption“.
Schon bei der Bundestagswahl im September 2002 verlor die SPD erheblich an Stimmen. Aber auch die PDS-Fraktion, vormals 36 Sitze, verschwand fast. Sie konnte gerade mal zwei Direktmandate erringen. Mit einer hauchdünnen Mehrheit gelang es Schröder aber noch einmal, zusammen mit den Grünen die Regierung zu bilden.
Ein halbes Jahr später, am 14. März 2003 kam Schröder mit der Agenda 2010 raus. Sie war nicht Schröders Erfindung. Die Bertelsmannstiftung hatte sie in ihren „Wirtschaftspolitischen Forderungskatalog für die ersten hundert Tage der Regierung“ vorformuliert und im Wirtschaftsmagazin Capital publiziert. Ihr Inhalte wurde weitgehend übernommen.
Ohnehin haben wir es hier mit einer Vorgabe der EU in der Folge des schon erwähnten Amsterdamer Gipfels zu tun. Nachzulesen im „Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften" vom 16. Juli 1998, Seite L 200/34 bis 44. Untertitel: „Nicht veröffentlichungsbedürftige Rechtsakte". Überschrift: „Empfehlung des Rates vom 6. Juli 1998 über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft (98/454/EG)“.
Wolfgang Clement, damals noch in der SPD und Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit - mittlerweile ist er selbst in der Zeitarbeitsbranche tätig - hob am 1. Januar 2003, zum Zwecke der „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ mehrere gesetzliche Rahmenbedingungen für die Zeitarbeit aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) ersatzlos auf. Es handelte sich um die Beschränkung der Höchstüberlassungsdauer, das Befristungsverbot, das Wiedereinstellungsverbot und das Synchronisationsverbot. Die Zahl der Leiharbeiter betrug Ende 1998 230.000, 2002 waren es 310.000, gegenwärtig ist etwa eine Million registriert.
Mittlerweile ist die Leiharbeit nicht mehr die bevorzugte Form von Lohnkostensenkung und Prekarisierung der Arbeit. An ihre Stelle treten Werkverträge, auf deren Grundlage Fremdfirmen außer- und untertariflich Arbeiten erledigen.
Am Samstag, den 9. April, fand eine zentrale Kundgebung des DGB in München statt. Motto: „Wir lassen uns nicht spalten“ - Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen beenden! Die IG Metall stellt in einem aktuellen Flugblatt fest, daß gegenwärtig in zwei von drei Betrieben Arbeiten über Werkverträge fremdvergeben werden. In den vergangenen drei Jahren hat in 22 Prozent der Betriebe die Anzahl der Werkverträge zugenommen. Den Teilnehmern der Kundgebung geht es darum, die Blockade der CSU gegen ein im Koalitionsvertrag vereinbartes Gesetz zu brechen. Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition wird versprochen: „Mit einem gesetzlichen Mindestlohn und allgemein verbindlichen Tarifverträgen sorgen wir für faire Löhne. Tarifautonomie, Tarifeinheit und Mitbestimmung sind für uns ein hohes Gut. Den Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit werden wir verhindern.“ Und an anderer Stelle: „Rechtswidrige Vertragskonstruktionen bei Werkverträgen zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen verhindert werden.“
Viele kritisierten an der DGB-Aktion in München ihre offenkundige Unterstützungsfunktion für die SPD. Ein Fehler wäre das erst, wenn die SPD nichts draus lernen würde. Da darf man aber skeptisch sein.
Vor elf Jahren hat sie unverdrossen Hartz IV und die Zustimmung des DGB durchgesetzt.
Seit dem 1. Januar 2005 ist das Arbeitslosengeld II Gesetz. Entscheidend ist nicht mehr, was in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt worden ist, sondern die Bedürftigkeit. Das hat die Arbeiterklasse der SPD bis heute nicht verziehen.
Schon bei den NRW-Kommunalwahlen im September 2004 wurde die SPD abgestraft. Die meisten Städte und Gemeinden in NRW bekamen CDU-Mehrheiten. Viele SPD-Wähler verzichteten darauf, ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung lag bei 54,4%, die SPD bekam noch 31,7% der Stimmen. 1999 waren es noch 35,7% gewesen. Ein halbes Jahr später, am 22. Mai 2005, verlor die SPD bei der Landtagswahl noch einmal, diesmal fast 6 Prozent mit der Folge, daß sie nach 39 Jahren aus der NRW-Regierung flog. 1966 hatte Heinz Kühn mittels FDP erstmalig eine SPD-geführte Regierung in NRW bilden können. Jetzt übernahm Rüttgers das Amt des Ministerpräsidenten einer CDU/FDP-Regierung.
Diese Wahlniederlage führte dazu, daß Schröder im Bundestag die Vertrauensfrage stellte. Der Bundestag wurde am 21. Juli aufgelöst. Neuwahlen erfolgten am 18. September 2005 mit dem eben erwähnten Ergebnis. Es kam ohne ihn zur großen Koalition. Schröder ging zu Gazprom.
Einen Tag vor der erwähnten Vertrauensfrage wurde in der WELT ein „Hamburger Appell“ veröffentlicht (30. Juni 2005). Es handelte sich um eine Reaktion auf Äußerungen aus der Bundesregierung. Sie hatte Lohnerhöhungen vorgeschlagen, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steigern. Gegen den Vorschlag postulierten mit dem „Hamburger Appell“ 253 neoliberale Ökonomie-Professoren: (wörtlich!) „dass eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage nur durch niedrigere Entlohnung der ohnehin schon Geringverdienenden, also durch eine verstärkte Lohnspreizung, möglich sein wird. Eine Abfederung dieser Entwicklung ist durch verlängerte Arbeitszeiten, verminderten Urlaubsanspruch oder höhere Leistungsbereitschaft möglich.“ Den Appell hatte Prof. Dr. Bernd Lucke zusammen mit Michael Funke und Thomas Straubhaar initiiert. Die Kosten für die Anzeige trug die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, bekanntlich eine Lobby-Organisation der Metall- und Elektroindustrie. Wir erinnern uns ihrer Kampagne „Auch du bist Deutschland“ aus dem Jahre 2006. Alleingesellschafter der INSM GmbH, zuständig für das operative Geschäft, ist das Institut der deutschen Wirtschaft. Die genannten Ökonomen, ebenso wie Alexander Dilger (später zeitweilig AfD-Landessprecher NRW), Jörn Kruse (Landessprecher Hamburg), Joachim Starbatty, Roland Vaubel, Dirk Meyer gehörten im Jahr 2013 zur ersten Garnitur der AfD. Zusammen mit Helga Luckenbach bildeten sie den wissenschaftlichen Beirat der Partei. Hans-Olaf Henkel, von 1995 bis 2000 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), bis 2013 Mitglied der Aufsichtsräte der Bayer AG, Continental AG, Daimler Luft- und Raumfahrt AG, SMS GmbH (Düsseldorf), dem Schweizer Medienunternehmen Ringier AG und Heliad Equity Partners (Frankfurt/Zürich), wirkte zunächst im Hintergrund bei der Gründung der AfD, sorgte für Geld, trat dann aber im April 2015, er war unterdessen stellvertretender Vorsitzender, zurück und nach der Wahl von Frauke Petry zur Parteivorsitzenden aus der AfD aus. Mit Bernd Lucke gründete er die Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA). Im vergangenen November war von ihm zu hören: „Wir haben ein richtiges Monster erschaffen“. Die AfD sei eine Art NPD-light, vielleicht sogar identisch mit der NPD.
Aber dazu später. Zunächst möchte ich in der Chronologie fortfahren.
Die Ergebnisse der nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen am 30. August 2009 bestärkten den Trend gegen die SPD. Bei einer Wahlbeteiligung von 52,4 %, deponierten noch 29,4% der Wähler ihr Vertrauen bei der SPD. Sie verlor an Prozenten 2,3, die CDU sogar 4,8 %. Es gewannen Grüne 1,6 %, FDP 2,4 % und Linke kam von 1,4% auf 4,4%. Rechte blieben allesamt unter 1%.
Es folgte kurz danach die Bundestagswahl. Am 27. September 2009 rummste es noch einmal kräftig. Die SPD hatte mehr als die Hälfte der Wähler (Zweitstimmen 1998: 20.181.269; 2009: 9.990.488) verloren. Im Zeitraum von 1998 bis 2009 war die Wahlbeteiligung von 82,2% auf 70,8%, um 11.4% gesunken.
In absoluten Zahlen sank die Wahlbeteiligung von 50 Mio auf 44 Mio. Die SPD hatte mit 10 Mio mehr als die Hälfte ihrer Wähler verloren.
Der Umstand, daß die SPD nach den Landtagswahlen im Mai 2010 wieder die Regierung stellen konnte, hat womöglich vergessen lassen, daß auch diese Wahlen weitere Verluste für die SPD gebracht haben. Allerdings mußte sich auch die CDU mit ihrem bislang schlechtesten Ergebnis abfinden, sie verlor mehr als 10%, während die SPD nur 1954 mal schlechter abgeschnitten hatte. Da allerdings die Grünen ein gutes Ergebnis hatten einfahren können, gab es bekanntlich eine rot-grüne Koalition im Lande, die sich 22 Monate lang gefallen lassen musste, dass sie von der PDL toleriert wurde.
Das änderte sich 2012, als SPD und Grüne die Gunst der Stunde und schlechte Umfrageergebnisse für die PDL nutzten und nach Auflösung des Landtags und folgenden Neuwahlen die Regierung stellen konnten, ohne auf andere angewiesen zu sein. Die PDL verlor und kam nicht wieder in den Landtag.
Das war im Mai 2012.
Liebe Genossinnen und Genossen,
nach Alexander Häusler, von dem eine Studie des DGB vom März 2016 zur AfD stammt (Redaktionsschluß Februar 2016) ist die Zustimmung zur AfD ist ein Resultat der Krise politischer Repräsentation: „Durch die Große Koalition verschwinden aus Sicht der Wähler unterschiedliche Politikangebote. Die Folge sind sinkende Wahlbeteiligung und Politikverdrossenheit. Vergleichbar mit den Erfolgen anderer rechtspopulistischer Parteien in Europa ist der AfD-Zuspruch auch ein Produkt gesellschaftlicher Endsolidarisierungsprozesse im Kontext neoliberaler Deregulierung: Rechtspopulistische Parteien treten als politische Krisengewinner auf und inszenieren sich als „Anwälte der kleinen Leute“: Sie spielen mit der Angst der unteren Mittelschichten vor sozialem Abstieg und mit Unsicherheiten in der Bevölkerung gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüchen im globalisierten Kapitalismus. Sie geben scheinbar einfache Antworten auf komplexe Problemlagen, indem sie diese in simplifizierende und personalisierende Feindbildkonstruktionen übersetzen. Gegen die ‚volksfeindliche Politikelite‘, so der Tenor, müsse ein ‚Aufstand des Volkes‘ angezettelt werden, als dessen ‚Anwälte‘ sich die Rechtspopulisten inszenieren. Dadurch bedient der Rechtspopulismus das Trugbild einer heilen nationalen Gemeinschaft und verkauft sich zugleich als deren Garanten. Nach Ansicht von Thomas Assheuer haben Finanzkrise und Sparpolitik die rechte Systemkritik beflügelt:
'Europas Rechte empfängt die politisch Heimatlosen mit offenen Armen, all die Abgehängten, Enttäuschten und Verängstigten in den unteren Mittelschichten, die heute noch einen Job haben, aber ihn schon morgen durch die digitale Revolution verlieren könnten. Die Rechte lockt mit einer ‚Volksdemokratie‘, die gerechter sei als die Kampfgesellschaften der EU, sie bietet den Tausch ‚Sicherheit gegen Freiheit‘, weil sie weiß, dass die Freiheit überall im Kurs gesunken ist: Der Neoliberalismus vermehrte die Eigentumsfreiheit der wenigen und die Unsicherheit der vielen, und vom arabischen Freiheitsaufstand ist auch nicht viel übrig geblieben. Etwas Besseres als die Freiheit findet man überall.“ Diese pointierte Schilderung gilt gleichermaßen für den deutschen Rechtspopulismus: In rechtspopulistischer Manier spielt die AfD mit den Ängsten der Bürger vor politischer Unübersichtlichkeit und vor sozialem Abstieg.“
Soweit zunächst mal aus der Studie von Häusler.
Tatsächlich werden wir uns mit der Programmatik der AfD auseinandersetzen müssen, sobald sie vorliegt. Bisher gibt es nur unterschiedliche Wahlprogramme. Aber Christine hat uns auf der letzten KV-Sitzung schon mal einige Aussagen der AfD, die Campact gesammelt hat, zusammengestellt.
Sie fordert dazu auf, auf die Medien einzuwirken und in die Pressefreiheit einzugreifen, damit alle Eltern sollen mindestens 3 Kinder bekommen (Wahlprogramm Ba-Wü.).
Sie wollen eine Volksabstimmung über das generelle Verbot von Abtreibungen (Frauenquoten und die Propaganda für sexuelle Minderheiten werden abgelehnt) (Wahlprogramm Ba-Wü.).
Höcke spricht von der „natürlichen Geschlechterordnung“.
Sie wollen den Mindestlohn abschaffen (Petry + Europawahlprogramm), ein Steuermodell von Kirchhoff: Einheitlicher Steuersatz von 25 % ab einem Einkommen von € 20.000,- (Petry + Bundestagswahlprogramm 2013). Damit wären Pendlerpauschale und steuerfreie Sonn- und Feiertagszuschläge abgeschafft.
Sie reden von Schusswaffen, die gegen Flüchtlinge (Männer und Frauen) einzusetzen sind (von Storch), wollen Lehrpläne für Schulen und Hochschulen überarbeiten: Nicht soviel Unterricht über die "12 Unglücksjahre". (Wahlprogramm Sachsen -Anhalt).
Wie verlangen die Zählung aller Homosexuellen im Land. Keine Information über Sex im
Unterricht. (Thüringische Landtagsfraktion).
Sie wollen verpflichtende „Bürgerarbeit“ für Arbeitslose unter dem Mindestlohn - 30 Stunden für € 1.000,-, aber Hartz IV abschaffen. Sie planen dase Wiederaufleben der Kernenergie und den Einsatz der Kohlekraft (Wahlprogramm Ba-Wü.). Denn es gebe keine „menschengemachte Erderwärmung." Sie sprechen von der „CO2“-Lüge.
Ich habe der Programmatik der AfD außerdem entnommen, daß sie für die Schuldenbremse sind, aber auch gegen TTIP.
Womöglich bekommen wir noch genaueren Aufschluss über die Ziele der AfD. Auf eins dürfen wir uns aber verlassen: auf soziale Demagogie. Sie werden uns über ihre sozialreaktionären Vorstellungen womöglich zu täuschen versuchen.
Im Februar hatten die Wohlfahrtsverbände vorgerechnet, daß im Ruhrgebiet jeder Fünfte arm ist. In Dortmund fallen nach ihrer Berechnung 21,4% unter die Armutsgrenze, in Düsseldorf 16,3%, in Köln 17,5%. Auch hier wächst sie rapide, in den vergangenen sieben Jahren um ein Drittel.
Es gibt gegenwärtig noch kein einklagbares Recht auf Nahrung, das sich auf die Menschenrechtskonvention berufen könnte. Denn die sozialen Menschenrechte harren noch der Übernahme durch die Europäische Menschenrechtskonvention. Aber es gibt mittlerweile 919 Tafeln in Deutschland, in denen 60 000 Helfer in annähernd 3000 Ausgabestellen regelmäßig mehr als 1,5 Millionen bedürftige Personen mit Lebensmitteln versorgen – knapp ein Drittel davon waren im vergangenen Jahr Kinder und Jugendliche. Auffällig ist die Entwicklung der Zahlen bei den Rentnern. Die Menge der Rentner, die die Tafeln in Anspruch nimmt, hat sich innerhalb weniger Jahre mehr als verdoppelt. Während im Jahr 2007 etwa 12 Prozent der Tafel-Kunden im nacherwerbstätigen Alter waren, ist ihre Zahl laut aktueller Tafel-Umfrage auf knapp 24 Prozent angestiegen. Sie hat sich verdoppelt.
Kürzlich habe ich hier im Kreisvorstand dargelegt, dass es die Ärmsten sind, die am meisten benachteiligten Teile der Bevölkerung in den Städten und Gemeinden, die mittels der Kürzung sogenannter freiwilliger Leistungen, zu denen Soziales und Kultur zählen, zur Kasse gebeten werden. Und sie zahlen für die Kürzungen mittels wachsender Mietnebenkosten wie Müll, Gas und Strom. Am 29. März lief auf Arte der Film „Die große Stromlüge“ (Regie: Cécile Allégra und Patrick Dedole, 90 Min, 2016). In den Jahren 2006 bis 2013 hat sich der Strom in Europa um durchschnittlich 42 Prozent verteuert. Im Film wird Energiearmut registriert und mitgeteilt, dass 2014/15 in Europa etwa 40 000 Wintertote zu beklagen waren. Sie starben, weil sie ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen konnten.
Die Ärmsten zahlen für die Kürzungen aber auch mittels steigender Preise bei Bahn und Bus und anderen kommunalen Einrichtungen, und falls durch den Finanzdruck kommunale Betriebe zur Privatisierung veranlaßt wurden, zusätzlich für die fälligen Gewinne der privaten Eigentümer.
Liebe Genossinnen und Genossen,
der Angriff auf die sozialen Errungenschaften hat sich verschärft und wird gegenwärtig begleitet durch die zunehmende Rechtsentwicklung, die auf autoritäre Herrschaftsformen, wenn nicht gar auf Faschismus hinausläuft. Wir müssen aber den Kampfe gegen Rechts begleiten mit einer Belebung des Kampfes um soziale Recht.
Seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 gilt die Arbeit als Menschenrecht. Normiert ist das in Artikel 23. Aber wie alle anderen sozialen Menschenrechte (Artikel 22 bis 26) fehlt es in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Bundesrepublik 1953 beigetreten ist. Die sozialen Menschenrechte sind folglich noch nicht innerstaatliches Recht.
Es handelt sich namentlich um:
das Recht auf soziale Sicherheit,
Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit
das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit
das Recht auf Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung
das Recht auf Bildung.
Die wachsende Armut auch in Köln, ebenso wie die Lage der Flüchtlinge stößt uns drauf: Die Krisensituation setzt den Kampf um die Befriedigung der elementarsten Lebensbedürfnisse auf die Tagesordnung. Hier bietet sich größte Chance, die Menschen gegen die Widrigkeiten eines Wirtschaftssystems, das allein dem Profit dient, zu einen. Es geht um bezahlbare Wohnungen, um Bildung, um Nahrung, um Menschenwürde, nicht zuletzt durch Arbeit – alles das kann der Kapitalismus nicht mehr garantieren.
Der Kampf um soziale Rechte wird begleitet vom Kampf um demokratische Rechte. Wie in den Jahren 1997 und 1998 ist eine Bewegung nötig, die soziale Rechte einfordert.
Klaus, 19. April 2016