Rechtsentwicklung in Staat und Gesellschaft
Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation. Krieg als Tugend, Flucht als Verbrechen
Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze, Foto: Bőr Benedek, CC-BY-SA 4.0
Sobald der homo sapiens auf die Beine kam, benutzte er sie zum Wandern. Erst mit der neolithischen Revolution verbreitet sich Ackerbau und Viehzucht, Vorratshaltung und Sesshaftigkeit. Jäger und Sammler haben das Nachsehen, wenn sie sich nicht die Ergebnisse fremder Arbeit räuberisch aneignen oder gar mittels Sklavenhaltung die Aneignung verstetigen. Die Sklavenhaltung, einmal entwickelt, erweist sich am Ende im Verhältnis zur feudalen Produktionsweise, die dem Bauer einen Teil seiner Arbeitsergebnisse lässt, als weniger produktiv. Der Bauer wiederum kann sich erst in den Städten dem feudalen Zwang entziehen, bezahlt seine doppelte Freiheit mit dem Formwechsel der Ausbeutung.
Dieser Formwechsel heißt: ursprüngliche Akkumulation. Es geht um die Trennung der unmittelbaren Produzenten, der Bauern und Handwerker, von ihren Produktionsmitteln, die Konzentration dieser Produktionsmittel in den Händen der Kapitalisten sowie die Verwandlung der Arbeitskraft der Arbeiter in eine Ware. In der Regel beginnt diese Trennung gewaltsam.
„Der Prozess, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozess, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als 'ursprünglich', weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet. Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt.“ (MEW 23, 742 f.)
Es wird schon mal der Abstand übersehen, den Marx zum Begriff „ursprüngliche Akkumulation“ und seinem Autor Adam Smith ausdrücklich hält. Das 24. Kapitel des Kapital Band I hat den Titel „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“. Die spiele in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. „Adam biss in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde.“ Gemeint ist doch: so wenig wie ihren Anfang, können wir das Ende der ursprünglichen Akkumulation bestimmen.
Und die Betroffenen haben nicht selten erhebliche Strecken im Zuge dieses Prozesses zu bewältigen. Ohnehin sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch. Die historisch fällige Trennung von Produzent und Produktionsmittel erscheint allzu oft als Flucht, Exil, Asyl. Gemeinhin als Folgen von Kriegen, unter die wir auch Wirtschaftskriege zählen dürfen. Aber am Ziel wechselt der Krieg seine Gestalt. Die Flüchtlinge werden interniert, kaserniert, in ein unüberschaubares Regelsystem integriert. Und sie werden peu à peu als Billiglöhner beschäftigt, ein Umstand, der die Tarifsysteme schreddert und das Lohnniveau insgesamt mindert.
In diesem Regelsystem hat die justizförmige Gewalt im System der Armutsbestrafung samt menschenfeindlicher Rechtfertigung ihren austarierten Platz neben der informellen Gewalt, mit der die Lohnkonkurrenz mehr oder weniger spontan niedergehalten wird. Die Rezession verstärkt diese Prozesse.
Und die Bundesrepublik steckt tief in der Rezession. Die Insolvenzen steigen, die Arbeitslosigkeit, die Lebensmittelpreise. Wir beobachten stillgelegte Baustellen, Demonstrationen gegen drohende Arbeitslosigkeit. Die Menge von Obdachlosen fällt immer mehr ins Auge. Überschüssiges Kapital wird gerne in der Rüstung angelegt, denn hier wird Markt und Profit staatlich garantiert. Schlachtfelder sind Absatzmärkte. Die politischen Kriegstreiber liefern immer neue Kriegsgründe und verhindern Friedensverhandlungen.
Die systembedingten Gründe für Krise und Krieg bleiben verhüllt. Letzlich erzwingt der „tendentielle Fall der Profitrate“ ein beständiges Größenwachstum der angewandten Einzelkapitale. Nur expandierend, durch die Unterwerfung und Ausbeutung von immer mehr fremder Arbeit, fremdem Eigentum, fremdem Kapital kompensiert die absolute Masse von Profit dessen relativen Schwund. Dieses Problem kulminiert in der Krise: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (MEW 25, 501)
Am Ende wird allein durch die Entwertung von Kapital die Krise gelöst.
Fluchtursachen, Migration
Jugoslawien
Gegenüber Menschen aus dem sogenannten Westbalkan wird gern der Vorbehalt geäußert, wir hätten es hier mit sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen zu tun. Bei der Gelegenheit ist an die Zerlegung Jugoslawiens zu erinnern, die seit 1991 führend von der Bundesrepublik betrieben wurde. Sie mündete bruchlos in den Krieg der NATO, die 1999 Serbien im sogenannten Kosovo-Krieg bombardierte. Hernach verfügten die vormals sozialistischen Republiken Jugoslawiens nur noch über einen Bruchteil ihrer industriellen Basis und vormaligen Wirtschaftskraft. Zum Kriegsende waren 800.000 Menschen, darunter 70.000 Serben und Roma, zum größten Teil aber albanische Bewohner des Kosovo, zu Flüchtlingen geworden. Ende 2016 lebten in Deutschland 200.000 Menschen aus dem Kosovo. Die Zahl albanischstämmiger Personen in Deutschland lag im Jahr 2020 bei rund 320.000.
Syrien
Im September 2015 irrten von den 21 Millionen Syrern 8 Millionen im Land herum. 1,5 Millionen hatten sich in den Libanon retten können, ein Land, das selbst gerade mal 4,2 Millionen Einwohner hat. 750 000 vegetierten in jordanischen Lagern. Hier sind Flüchtlinge angewiesen auf das Welternährungsprogramm der UNO. Dessen Lebensmittelhilfe war im August zuvor von 27 Dollar auf 13,50 Dollar pro Person und Monat gekürzt worden. Offenbar hatten einige Staaten versäumt, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Zu fragen ist aber auch, wer solche folgenreichen Kürzungsentscheidungen traf. Aktuell drohte Hunger in den Lagern. Der trug zur seinerzeitigen Menge von Flüchtlingen aus Syrien einen erheblichen Teil bei. Hier haben wir es aber noch nicht mit der Ursache, allenfalls mit einem Anlass zu tun. Fluchtursache war der Krieg in Syrien. Insbesondere Männer aus den Lagern lockte die Hoffnung auf günstigere Verhältnisse, vor allem in Deutschland.
Allein im türkischen Izmir warteten im September 2015 400 000 Menschen auf eine Gelegenheit zur Überfahrt.
Weltweit waren im Jahr 2015 60 Millionen Menschen unterwegs, die der Imperialismus heimatlos gemacht hat, Ende 2022 sind es schon 110 Millionen.
Die in Syrien vom Himmel fallenden Bomben und Raketen hatten ganz irdische Gründe. Mit der EU hatte sich das Land im Dezember 2003 auf den Wortlaut eines Assoziationsabkommens verständigt. Artikel 1: „Ziel dieses Abkommens ist es, […] die Voraussetzungen für die schrittweise Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs zu schaffen.“ Es ging um den Abbau von Zollschranken im Namen des Freihandels, um Investitionsschutz, um Privatisierungen öffentlicher Güter, nicht zuletzt des staatlichen Gesundheitswesens. Das ganze neoliberale Programm des gegenwärtigen Imperialismus, der Ausbeutung fremder Arbeit, fremden Eigentums, fremden Kapitals war Gegenstand des Abkommens.
Die sozialen und politischen Folgen waren verheerend. Die politischen Unruhen mündeten im Februar 2011 in den Bürgerkrieg. Assad-Gegner wurden militärisch aus Saudiarabien und Katar unterstützt. Im Westen wurde der mediale Apparat auf Kriegshetze eingestellt. Er überschlug sich am 21. August 2013, als die syrische Regierung für einen Giftgaseinsatz verantwortlich gemacht wurde. Der EU ging es um die Garantie des Liberalisierungskurses, die USA indessen wollten den Regimewechsel. Im Juli 2015 schätzte die UNO die Zahl der syrischen Todesopfer dieses Krieges auf 250 000. Sie sind ein Resultat der „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ (ENP).
Ukraine
Nach dem Untergang der Sowjetunion expandierte die EU zunächst nach Osten. Dieser Prozess war 2004 mit der Aufnahme von zehn Staaten weitgehend abgeschlossen.
Im November 2013 war das Assoziationsabkommen mit der Ukraine unterschriftsreif. Die Ablehnung führte zum Maidanputsch und zum Krieg im Donbass, der sich im Februar 2022 zu einem Krieg Russlands gegen die mit der NATO verbündeten Ukraine ausweitete. Ein Ergebniss: in Deutschland leben mittlerweile (Oktober 2023) rund 1,15 Millionen ukrainische Staatsbürger.
Sollten wir eine Revolution anfangen?
Am 3. Juni 2006 erschien in der Weltpresse ein Foto. Legende: „Drama auf den kanarischen Inseln. Ein erschöpfter Afrikaner kriecht auf den Strand von Gran Tajaral auf Fuerteventura, während sich im Hintergrund Urlauber sonnen.“
Eine ähnliche Begegnung schildert ein anderer Asylant, einer der 20.000 Deutschen im Pariser Exil. Heinrich Heine hielt sich urlaubsweise 1833 in Boulogne-sur-Mer an der Nordsee auf. Hier begegnete er auswandernden Deutschen. Zitat: »Und warum habt ihr denn Deutschland verlassen?« fragte ich diese armen Leute. »Das Land ist gut, und wären gern dageblieben«, antworteten sie, »aber wir konnten's nicht länger aushalten –«
Nein, ich gehöre nicht zu den Demagogen, die nur die Leidenschaften aufregen wollen, und ich will nicht alles wiedererzählen, was ich auf jener Landstraße, bei Havre, unter freiem Himmel, gehört habe über den Unfug der hochnobelen und allerhöchst nobelen Sippschaften in der Heimat – auch lag die größere Klage nicht im Wort selbst, sondern im Ton, womit es schlicht und grad gesprochen oder vielmehr geseufzt wurde. Auch jene armen Leute waren keine Demagogen; die Schlußrede ihrer Klage war immer: »Was sollten wir tun? Sollten wir eine Revolution anfangen?«
Thüringen und Sachsen
Die Wahlergebnisse zu den Landtagen in Sachsen und Thüringen lassen es an Deutlichkeit nicht mangeln. Man gewinnt den Eindruck, dass die sächsischen und thüringischen Wählerinnen und Wähler gewusst haben, was sie tun, zumal sie sich noch 2014 in Sachsen nur zu 49,1% und in Thüringen zu 52,7% an der Wahl beteiligt hatten. Am 1. September aber schritten 74,4% der sächsischen Wahlberechtigten zur Urne. In Thüringen waren es 73,6%.
Die AfD wurde in Sachsen mit 30,6%, in Thüringen mit 32,8% in den Landtag gewählt.
Der FAZ fiel auf (Daniel Deckers, 3. September): „Dieselbe SPD, der bei der Landtagswahl in Thüringen 2019 acht Prozent der Wähler (= 90.987) ihre Stimme gegeben hatten, kam in der Bundestagswahl zwei Jahre später auf 23,4 Prozent (= 296.446) der Zweitstimmen. Und mit neun Prozent für die FDP (= 114.283) und immerhin noch 6,6 Prozent für die Grünen (83.220) war die 40-Prozent-Marke am 25. September 2021 in Sichtweite.“
Die drei Ampelparteien haben unterschiedlich Federn lassen müssen. Die SPD (im Verhältnis zur Bundestagswahl) verlor 75,4% der Wählerstimmen, die Grünen: 54%, die FDP: 88,8%. Zusammen kamen sie in Thüringen noch auf 10,4%, in Sachsen auf 13,3%.
Einen Lichtblick bietet die friedenspolitische Bedingung, die das BSW an eine Koalition stellt. Heute wurde diese Bedingung in der Kölnischen Rundschau von Sevim Dagdelen präzisiert: „Wir wollen in einem Koalitionsvertrag festgeschrieben wissen, dass sich die Landesregierung gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, für mehr diplomatische Bemühungen der Bundesregierung und gegen die US-Raketenpläne ausspricht.“ Und sie verwies auf die Möglichkeit von Bundesratsentscheidungen zu diesem Thema.
Es ist zu hoffen, dass sich solche Diskussionen möglichst lange hinziehen und die Forderungen ihren Weg durch viele bundesdeutsche Köpfe nehmen.
Klaus, 9. September 2024