Auf den Spurten der Naziopfer

8. Mai 2016 - Auf den Spurten der Naziopfer

Antifaschistische Stadtrundfahrt durch das rechtsrheinische Köln

Der jüdische Friedhof in MülheimDer jüdische Friedhof in Mülheim ist etwas abgelegen. 1774 eröffnet, letzte Beerdigung 1942, 100 Gräber. Auf einem Grabstein lesen wir: „Im Gedenken an Josef, Bertha u. Paul Spiegel, die im Konzentrationslager umkamen.“ Winfried Günther von der Kölner Synagogen-Gemeinde öffnet uns die Gittertür und erläutert ausführlich die Geschichte des Friedhofs. Hier ist alles grün, viele Gräber sind überwachsen, uralter Baumbestand. Hin und wieder donnern Züge vorbei.

Die VVN Köln hat zusammen mit dem Verein EL-DE-Haus zu einer antifaschistischen Stadtrundfahrt durch das rechtsrheinische Köln eingeladen. „Am 6. März wurde das linksrheinische Köln durch US-Truppen von der Naziherrschaft befreit. Erst Wochen später, im April, war der Krieg auch für die Menschen im rechtsrheinischen Stadtgebiet zu Ende und am 8. Mai vor nunmehr 71 Jahren war der Faschismus an der Macht in Deutschland Geschichte. Doch bevor es so weit war, dass die Barbarei ein Ende hatte, versuchten die braunen Machthaber und ihre Handlanger noch, möglichst viele ihrer Gegner zu beseitigen – die Zahl der sogenannten Kriegsendphasenverbrechen ist groß.“
Wir fahren mit einem Bus.
Den Stau auf der Mülheimer Brücke nutzt Peter Trinogga, Vorsitzender der VVN Köln, und informiert über die Messelager in den Jahren 1939 bis 1945 auf dem Gelände der Deutzer Messe.
Dort war die SS-Baubrigade III als Außenlager des KZ Buchenwald untergebracht. 1000 Häftlinge hatten Trümmer und Blindgänger zu beseitigen und Leichen zu bergen. Das war einerseits gefährlich, andererseits bot es auch die Gelegenheit zur Flucht. Etwa 150 Gefangene nutzten sie. Insgesamt werden 6000 Menschen die SS-Baubrigade III in Köln durchlaufen haben. Auf dem Gelände gab es noch Kriegsgefangenenlager, ein Polizeihilfsgefängnis bzw. Arbeitserziehungslager der Gestapo sowie Lager für zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. In Deutz wurden auch zwecks Deportation Juden, Sinti und Roma gesammelt.
Als zentraler Ort der Unterdrückung waren die Messelager in der Stadt Köln nahezu vergessen. In einer Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Messe im Jahre 1949 wurde dieses Kapitel verschwiegen. Ab 1981 gab es eine kleine Gedenktafel am Messeturm. Es bildeten sich in Köln Initiativen, um die Vorgänge um das Lager zu erforschen und bekannt zu machen. 1993 weihte OB Norbert Burger am Deutzer Rheinufer ein Mahnmal ein. 1996 erschien das Buch „Messelager Köln“, das die Geschichte des Lagers ausführlich darstellt.

Von Mülheim fahren wir nach Dünnwald. Auf dem Weg zur dortigen Schießanlage spazieren wir zunächst durch die Camping- und Biergartenidylle um das Waldbad. Das ist 1924 vor allem durch Eigenarbeit von arbeitslosen Jugenlichen erbaut worden, organisiert vom „Freien Ortskartell“, einem Zusammenschluss von Arbeitervereinen und der SPD. Der Vorsitzende des Ortskartells, Peter Baum, wurde bei der letzten Kommunmalwahl am 12. März 1933 zum Stadtverordneten für die SPD gewählt, aber noch vor der ersten Sitzung am 30. März von der Gestapo verhaftet. Immer wieder kam er in der Folge für mehrere Wochen in Haft. Im August 1944, nach dem Attentat vom 20. Juli auf Hitler, im Zuge der „Aktion Gitter“ festgenommen, verbrachte man ihn ins Deutzer Messelager, von dort ins KZ Sachsenhausen, wo er am 12. Dezember 1944 mit einem Gewehrkolben erschlagen wurde. Die Straße, auf der wir und gerade bewegen, heißt Peter-Baum-Weg.

Bald erreichen wir die Schießanlage: Fünf Wälle, 600 Meter lang, mittlerweile von Grün überwachsen. Nichts weist auf den Zweck der Anlage hin. Der Schießplatz war ein Hinrichtungsort. Vom 15. Oktober 1940 bis 23. Dezember 1943 wurden dort 23 Männer hingerichtet, zwei weitere im März und April 1945 in einer angrenzenden Kiesgrube. Es waren Soldaten der Wehrmacht, von Militärgerichten zum Tode verurteilt – wegen Fahnenflucht oder „Zersetzung der Wehrkraft“. Der Älteste war 41, der Jüngste 18. Ulrike Bach von der Kölner VVN schildert die letzten Tage von Jakob Brock, der am 7. April 1945 wegen „Fahnenflucht“ erschossen wurde. Er war gerade mal 22 Jahre alt. Kurz vorher hatte er geheiratet. An ihn erinnert in Höhenhaus seit dem 1. September 2007 der Name einer Straße.

Wir fahren weiter zum Gremberger Wäldchen. Peter Trinogga nimmt das Mikrofon und erinnert an Martha Mense aus Höhenhaus. Sie ist als junge Kommunistin am Widerstand beteiligt und noch lange als Zeitzeugin in Schulen gegangen, um über die Zeit des Faschismus und den Widerstand zu berichten. Sie macht Führungen mit Schulklassen durch das EL-DE-Haus, in dem sie selbst inhaftiert war. Auch nach dem Krieg engagiert sie sich in der KPD. Gründungsmitglied der VVN. Die KPD wurde 1956 verboten. Als 1968 mit der Gründung der DKP die Kommunisten wieder legal tätig werden können, ist Martha dabei. Sie ist aktiv in der Friedensbewegung der 80er Jahre und beteiligt sich an Aktionen der Höhenhaus-Dünnwalder Friedensinitiative gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen und gegen den Golfkrieg. Martha Mense stirbt am 18. September 1998. In Kalk erinnert seit 2001 die Martha-Mense-Straße an diese aktive Antifaschistin.

Wir steigen am Gremberger Ring aus. Nach wenigen hundert Metern stoßen wir auf die Gedenkstätte. Hier stand ein Krankensammellager. Ein Sterbelager aus mehreren Baracken. Es wurden schwer erkrankte Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den 300 Arbeitslagern in Köln eingeliefert, insbesondere Menschen aus der Sowjetunion, der Ukraine, Polen und Franzosen, die zur Zwangsarbeit in die umliegenden Industriebetriebe verschleppt und wegen mangelnder Hygiene und unzureichender Ernährung erkrankt waren. Ein Zeitzeuge, Iwan Pachomow, erinnert sich: „Die Kranken bekamen im Lager keine Behandlung und noch schlechtere Nahrung als im Lager beim Werk.“
Über diese Stätte informiert Fritz Bilz aus Köln-Brück, Lokalhistoriker und Autor. Seine Stiftung zeichnet alljährlich lokale Institutionen aus, die sich für Völkerverständigung oder für politisch, rassistisch oder religiös Verfolgte einsetzen.
Die dauernde Belegungsstärke habe mindestens 150 Personen umfasst. Insgesamt hätten weit über 800 Menschen dieses Lager durchlaufen. „Es gab auch eine Entbindungsstation, somit wissen wir, dass auch Frauen hier waren.“ Die Tochter einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, Tamara W., sei in diesem Lager in einer Bombennacht im Juli 1944 ohne ärztliche Hilfe geboren. Ihre Mutter habe ihr erzählt, dass die hygienischen Zustände dort sehr schlecht waren. So erkrankte die Mutter an Typhus und die Tocher an Diphterie. Mutter und Tochter überlebten nur, weil der Vater – ein entflohener ukrainischer Zwangsarbeiter – beiden in einer weiteren Bombennacht zur Flucht verhalfen. Traurige Berühmtheit habe das Lager durch die Ermordung von sowjetischen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen kurz vor der Befreiung Nazi-Deutschlands durch die Alliierten erlangt.
„Am 7. April 1945 gab der Kölner NSDAP-Kreisleiter Alfons Schaller den Befehl, dieses Lager zu räumen. Am Sonntag dem 8. April, dem Palmsonntag, kamen zwei LKWs mit Volkssturmmännern aus Poll und Deutz, die das Lager umstellten. Die Insassen wurden aufgefordert, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken und sich auf der Straße in Kolonnen aufzustellen. Die meisten kamen dem Befehl nach, manche flohen, andere waren zu schwach, um das Lager zu verlassen. Was danach geschah, schildert der Zeitzeuge Sergej Stepanow, der in dem Lager untergetaucht war:
'Um fünf Uhr morgens kamen auf zwei LKWs Männer und umstellten das Lager. Ich wachte von den Schüssen auf. Sie kamen an ein Fenster, machten es auf und schossen. Dann gingen sie an ein anderes Fenster. Ich und mein Freund versteckten uns unter dem Tisch, der vor dem Fenster stand. Da hörten wir, dass zuerst die Scheiben eingeschlagen wurden und dann das Schießen anfing. Sie schossen durch die Fenster. Daher versuchten wir aus der Baracke herauszukommen.'
Danach wurde befohlen, die Krankenbaracken zu verbrennen, 'um einen Seuchenherd zu beseitigen', so ein Teilnehmer der Aktion, ein Volkssturmmann, bei seiner Vernehmung durch die britische Besatzungsbehörde im März 1948. Es wurde dann mehrere Ballen Stroh in die Baracken gesteckt, Benzin drüber geschüttet und Feuer gelegt. Mehrere Schwerkranke, die nicht mehr laufen konnten, sind dabei bei lebendigem Leibe verbrannt. Wie viele Menschen bei diesem grausamen Verbrechen ermordet wurden, ist nicht bekannt. Die Aussagen darüber schwanken.
Am 10. April 1945 wurden vier erschossene und sieben verbrannte Zwangsarbeiter aus diesem Lager beigesetzt. Diese Zahlen sind belegt, auch wenn Zeitzeugenberichte von bis zu zehn Erschossenen und 20 Verbrannten berichteten.
Aufgrund der britischen Ermittlungen konnten der Tathergang und die drei Haupttäter genau ermittelt werden. Die Akten der Anklageerhebung gegen drei namentlich bekannte Personen wurden am 15. Juli 1949 an den Kölner Generalstaatsanwalt übersandt. Dies ist nachgewiesen. Die Kölner Staatsanwaltschaft ist diesen Fällen nicht nachgegangen. Warum nicht, darüber kann nur spekuliert werden.“

Die Bronzeplastik des Bildhauers Klaus Balke hier auf Initiative der VVN seit 1985. Auf ihrem Sockel heißt es:
„Und alles Mitleid, Frau, nenn ich gelogen,
das sich nicht wandelt in den roten Zorn,
der nicht mehr ruht, bis endlich ausgezogen,
dem Fleisch der Menschheit dieser alte Dorn.“
– Bertolt Brecht
Auf einer Steintafel neben der kleinen Bronzeplastik steht: „Hier sind 74 sowjetische Bürger begraben, die während ihrer Gefangenschaft unter dem Faschismus in den Jahren 1941 bis 1945 ermordet wurden.“

Wieder zurück am El-De-Haus nehmen wir noch Gelegenheit, uns von Malle Bensch-Humbach über das Deserteursdenkmal informieren zu lassen. Es würdigt in Form einer Pergola Deserteure und Kriegsgegner aus der Zeit des Nationalsozialismus („Hommage den Soldaten, die sich weigerten zu schießen...“). Es stammt vom Schweizer Designer Ruedi Baur und wurde am 1. September 2009 der Öffentlichkeit übergeben. Die Initiative dazu ging vom alljährlichen Auschwitzgedenktag aus, der im Januar 2006 die Deserteure zum Thema gemacht hatte. Auch die Dünnwalder Schießanlage geriet erst ab diesem Zeitpunkt ins Blickfeld der antifaschistischen Öffentlichkeit.

Klaus Stein

Fotos